«Wir streiten zu wenig über Kunst!»
Hier entsteht gerade ein Gefängnis – nicht Gitterstab um Gitterstab, aber Wand um Wand. Ein einfaches Haus wird gebaut auf der kleinen Bühne im Ballhof des Hannoverschen Staatsschauspiels, von einem einfachen Mann – und hinter den Kulissen, die Michael Sebastian einer nach der anderen hereinträgt und montiert, werden am Ende all die Geschichten versteckt sein, die derweil über ihn erzählt werden; über ihn, den Mann, den Vater einer fundamental kaputten kleinen Familie.
Stumm ist dieser Vater, und der echte Michael Sebastian trägt – jenseits vom Theaterspielen – im wirklichen Leben den Szene-Namen «Minna»; und dieser «Minna» hat eine Biografie mit vielen scharfen Ecken und Kanten. Er ist die Projektion für all jene Familien-Geschichten, die Christian Baron, das Kind aus Kaiserslautern, erzählt im Roman «Ein Mann seiner Klasse» – «Minna» Sebastian, der Theater-Laie, wird zum Ereignis in der Theaterfassung, die das Team um Lukas Holzhausen in Hannover erarbeitet hat.
Aber nicht nur «Minna» hat die Jurorinnen und Juroren fürs «Theatertreffen» überzeugt – vor dem Haus (oder eben dem Gefängnis, das da entsteht) berichten drei Spiel-Figuren sehr detailliert von diesem Vater, diesem Nicht-Vater, der so grundsätzlich aus allen sozialen und gesellschaftlichen Sicherungsnetzen fiel, dass er die familiäre Rolle wohl nie richtig annehmen konnte: Nikolai Gemel erzählt als erwachsenes Autoren-Ich vor allem über sich selber als Junge; und im Wechsel sind die Theater-Kinder Noah Ilyas Karayar und Titus von Issendorff (beide schon ziemlich bühnenerfahren durch die Mitarbeit in einer der Jugendgruppen des Theaters) jeweils «Benny», der ältere Bruder vom Autor Baron. Stella Hilb vereint derweil in sich alle weiblichen Rollen, Mutter, Tante und mehr – viele Menschen und Verzweiflungswelten sind versammelt in dieser erstaunlichen Theater-Arbeit. Im Tableau der aktuellen Ausgabe vom «Theatertreffen» ist sie in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall.
Und auch zum «Stücke»-Wettbewerb nach Mülheim reist Lukas Holzhausen – als Schauspieler für eine Vorstellung von Theresa Doplers kuriosem Bergsteiger-Stück «Monte Rosa». Mit den Kollegen Matthias Max Herrmann und wiederum Nikolai Gemel klettert er in diesem Fall auf höchste Höhen unweit vom Matterhorn; einen ziemlich ulkigen Bild-Ausschnitt vom Hochgebirge zeigt die Bühne von Fabian Liszt. In den Begegnungen der drei kuriosen Kletterer kristallisieren sich Bilder vom Mann-Sein und vom männlichen Altern heraus – kräftige Muskeln und stramme Hinterteile entscheiden da über Wohl und Wehe und maskuline Sympathie; und während die sonderbaren Kraxler immer weiter und tiefer hinein driften in die eigenen Unzulänglichkeiten (und sogar einer zu Tode kommt in jenem «Steinschlag», den er zuvor immer wieder selber herbei gerufen hatte), mischen sich auf verblüffende Weise Anziehungskraft und Abstoßungsenergie. Matthias Rippert, auch Dozent an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, hat diese schräge Fantasie in immer dünner werdender Alpen-Luft inszeniert, auf der anderen, der etwas größeren Bühne im hannoverschen Ballhof.
Amüsanter Nebeneffekt: Lukas Holzhausen, der Schweizer vom Jahrgang 1967, in Zürich aufgewachsen und an der lokalen Theater-Akademie dort ausgebildet, kann hier, in den hannoverschen Theater-Bergen, ausnahmsweise mal so richtig Schweizer sein; Herrmann ist daneben der Kumpel aus Deutschland, und Gemel stößt als morbid-österreichelndes, ziemlich anstrengend verführerisches Jüngelchen dazu.
Spiel und Regie
Holzhausen ist ziemlich viel herum gekommen, als Schauspieler und Regisseur – hatte das erste Engagement gleich am heimischen Schauspielhaus, bevor er 1993 nach Graz wechselte. Danach, nach sieben Jahren bis 2000, blieb er nie mehr so lange an einem Haus, absolvierte stattdessen regelmäßige Umzüge – nach Bremen für nur ein Jahr, dann für drei nach Frankfurt/M. und je vier nach Köln und ans Hamburger Schauspielhaus; vier Jahre folgten dann noch einmal daheim in Zürich und weitere vier am Volkstheater in Wien. Mit Partnerin Anja Herden ist er dann 2019 nach Hannover umgezogen – und macht sich mit mittler -weile Mitte 50 gelegentlich auch Gedanken über die Sesshaftigkeit. Jetzt in Hannover ist er sehr präsent im Spielplan – neben dem Alpinisten-Part in «Monte Rosa» in dieser Spielzeit auch mit dem feinen Monolog «Die Tagesordnung» nach dem Buch von Eric Vuillard; damit wird er auch zu den Ruhrfestspielen nach Recklinghausen eingeladen. In der Kleistund «Amphitryon»-Version des alten Grazer Freundes Stephan Kimmig erkundet Holzhausen die Haltungen von Gott und Feldherr in derselben Person; mit Kimmig und der gendertechnisch neu durchmischten «Platonowa»-Inszenierung nach Tschechow gelang auch Holzhausen der Einstand in Hannover. Mit dabei ist er jetzt auch im zweiten Aufführungsversuch mit «Das Vermächtnis» nach Matthew Lopez, am Schauspielhaus der Landeshauptstadt inszeniert vom Hallenser Thalia-Chef Ronny Jakubaschk.
Wie zuvor mit Anna Badora in Wien hat er nun aber auch mit Sonja Anders in Hannover fest vereinbart, dass er neben dem Spiel auf der Bühne selber inszeniert – vor Barons Roman «Ein Mann seiner Klasse» hatte er sich «Aufzeichnungen aus einem Kellerloch. Bei nassem Schnee» vorgenommen; und dabei eine herausfordernde Double-Konstruktion aus jüngerem und gealtertem Ich kreiert für den unscheinbaren «Untergrundmenschen» aus Dostojewskis Roman von 1864.
Tatsächlich war die Doppelrolle zwischen Spiel und Regie für Holzhausen von Beginn an existenziell: «Ich wollte immer Regisseur werden», und als Studierender im Schauspiel (was ihm zeitweilig ein bisschen wie ein «hysterisches Klassenlager» vorgekommen sei) habe er sich noch ganz naiv vorgestellt, dass der Übergang vom einen zum anderen völlig normal, umstandslos und organisch gelingen könne. In Zürich war er geblieben, weil hier alle Freundinnen und Freunde lebten und er auch noch die freie Gruppe weiter betreiben konnte, die es seit Schulzei -ten gab – Felix Rellstab, damals Leiter der Theaterakademie und Mitbegründer des Neumarkttheaters, gab ihm diese Möglichkeit und förderte ihn nach Kräften. Und trotz aller Regie-Ambition wusste Holzhausen sehr wohl: «Kern des Theaters ist doch der Schauspieler»; dass der dann aber auch inszeniert, sei späterhin «gar nicht gern gesehen» worden. «Geradezu grotesk» findet Holzhausen mit dem Blick von heute «diese immer größere Spezialisierung von Technokraten; letztlich hat das mit Machtfragen zu tun», ohne dass es ernsthaft thematisiert werde.
Zur Zeit von Holzhausens Start in Graz manifestierte sich zudem der Bruch in Spiel und Stil am Theater – der alte Bezugspunkt war immer irgendwie Peter Stein und die Schaubühne gewesen, zum neuen schwangen sich gerade Frank Castorf und die Volksbühne auf. Der Paradigmenwechsel in der Folge war massiv. Zugleich aber nahmen die Umstrukturierungen in den Betrieben selber Fahrt und Tempo auf – war früher der kaufmännische Direktor «der natürliche Feind der künstlerischen Abteilungen» gewesen, erfasste jetzt die Kontrolle über die Produktionsetats alle Bereiche; das Management übernahm an vielen Orten die Macht im Theater-Staat. Derweil schrumpften die Ensembles massiv; weil aber zugleich immer mehr junge Leute ins Theater strebten, wurde «die Schlange hinter jeder Stelle länger und länger». Außerdem verfestigte sich das Regietheater – produktive Arbeit, selbstbewusstes Kunst-Schaffen als Spieler war kaum mehr möglich ohne detaillierte Kenntnis der Haltungen von Regisseurin und Regisseur. All das, sagt Holzhausen heute, habe auf unterschiedlichste Weise zur «Entmachtung des Schauspielers» geführt.
Innen- und Außenperspektive
«Mit diesem Beruf ist ja niemand jemals richtig ‹fertig›», meint Lukas Holzhausen; und als so herausfordernd empfinde er ihn, dass er selber nie nur Regisseur sein wollte. Die Mischung macht’s: «Es ist doch toll, bei und mit anderen zu spielen – warum soll das ein Hinderungsgrund sein, Regie zu führen?» Die «innere Disziplin» müsse natürlich gewahrt sein, um innerhalb des Ensembles beide Funktionen auszuüben. Und den dauernden Wechsel zwischen Innen- und Außen-Perspektive nimmt er wahr als die wichtigste Herausforderung. Darum könne er persönlich sich einerseits auch gar nicht vorstellen, pro Spielzeit vier oder fünf Inszenierungen fertigzustellen (oder gar noch mehr); während andererseits Schauspielerinnen und Schauspieler (wie auch er weiß) in den Routinen der herumreisenden Regieprominenz ohnehin auch schmerzliche Erfahrungen zu durchleben hätten.
Extrem oft, 17-mal inzwischen und immer gern, habe er mit Dusan David Parizek gearbeitet, auch die Beziehung zu Stephan Kimmig blieb immer fruchtbar. Bei beiden werde immer ein «extrem gutes Klima mit dem Ensemble» geschaffen: «Mir ist schleierhaft, wie Druck und Angst die Kreativität heben sollen. Ich habe noch niemanden gesehen, der unter Druck und Angst und Schmerz besser geworden wäre.» Und gerade auch weil Schauspielerinnen und Schauspieler doch ganz gut wüssten, wann und warum sie zuweilen nicht wirklich gut sind, «schämen wir uns doch schon vor uns selber – aber wenn dann auch noch Schuldzuweisungen hinzukommen …» Auch der allgegenwärtige Regiewunsch ans Ensemble, bis an die eigenen Grenzen und darüber hinaus zu gehen, nütze nicht viel: «In jedem und jeder steckt dieser Wunsch doch ohnehin! Dahin muss niemand getreten werden. Sie sollen uns locken, uns überzeugen.» Und das schlimmste Prinzip: «Leute brechen, damit sie besser werden. Das ist ein grotesk falsches Verständnis von Theater und Kunst.» Stattdessen solle Schauspielkunst «von innen gefüllt» sein; das hat Holzhausen von Orson Welles: «Nichts rein tun von außen, sondern wissen, was weggelassen werden kann.»
Immer seien letztlich der Schauspieler und die Schauspielerin Autor und Autorin des eigenen Spiels. Und obendrein sei «Theater Gruppen-Kunst – aber wir denken immer nur protagonistisch». Das schade dem Beruf und führe fast unausweichlich zur Sucht nach Originalität.
«Ich hab’ keinen Stil»
Ob es hilft, diese Haltungen alle paar Jahre wieder neu definieren zu müssen: am neuen Haus, in der neuen Stadt, neuen Menschen gegenüber? Vielleicht: «Ich bin als Mensch zu schüchtern, um mich schnell zu Hause zu fühlen: in der Gruppe, in der Stadt … und habe deshalb immer gezögert, frei zu arbeiten.» Auch die Angst sei ja nicht zu unterschätzen im Beruf: «Ab wann ist jemand bereit, sich zu öffnen? Wenn’s nichts kostet, muss niemand auf die Bühne gehen.» Ironie sei viel zu lange schon an der Macht gewesen: «Ich glaube an die Verwandlung; wir müssen dafür sorgen, dass irgendetwas von dem, was wir tun, Fuß fasst im Publikum», Wurzeln schlägt im Bewusstsein einer Gesellschaft, die feste Seh-Gewohnheiten im Theater ja eigentlich gar nicht mehr kennt. Übrigens auch viele Stücke nicht: «Ich bin gern Erzähler!» Und: «Ich hab’ keinen Stil!» Seine Devise ist «weniger produzieren!», als Schauspieler wie als Regisseur – für alle «Himmelsrichtungen des Geschmacks». «Niemand muss an mich glauben – inspirieren, überzeugen: das ist meine Aufgabe.» Noch immer würden Schauspielerinnen und Schauspieler schmählich unterschätzt: «Wer wie ein Kind behandelt wird, verhält sich wie ein Kind! Geht erwachsen um mit mir! Versucht, die Leute ins Boot zu holen; alle!» Berührungsängste, Vorurteile, Ressentiments kann und darf es im Theater nicht geben: «Als Regisseur kann ich mit Kolleginnen und Kollegen nur auf Augenhöhe reden. Ich stehe ja am nächsten Abend wieder mit ihnen gemeinsam auf der Bühne. Und ich weiß ja als Spieler selber, wo ihre Furcht sitzt.» Niemand werde ein anderer, sagt Holzhausen, bloß weil er oder sie Theater spielt: «Ich möchte gerade jetzt nicht den Eindruck erwecken, ich wüsste irgendwas besser; ich bin mir der eigenen Mängel heute viel bewusster als früher, und ich brauche sehr lange, um zu sagen, dass etwas wirklich gelungen ist.»
Dazu hat der «existenzielle Nullpunkt» beigetragen, den auch Lukas Holzhausen durchlebt und durchlitten hat. Das war in der Hamburger Zeit: «Da hab’ ich zu malen begonnen; Foto-Realismus in Öl. Auch Möbel bauen wäre gut gewesen – das Hauptziel war, etwas zu machen, was bleibt.» Anders als im Theater, das vergeht sofort.
Für die Strukturen der Macht im Theater fehlt Holzhausen jedes Verständnis: «Warum tun wir, was wir tun, mit so wenig Lust zusammen? Warum müssen wir einander das Leben so schwer machen? Ich versteh’s nicht.» Diese dauernde Zermürbung führe dazu, dass zwar immerzu über alles Mögliche andere geredet werde, nur nicht über das, worum es wirklich geht: «Wir streiten zu wenig über die Kunst!»
Theater heute Mai 2022
Rubrik: Mülheim Stücke, Seite 32
von Michael Laages
Finanziell unabhängiger Bürgersohn, der einigen Wert auf sein Äußeres legt – gelbe Weste zum blauen Frack –, naturbegeistert und klassisch belesen, verliebt sich in verheiratete Frau und leidet so ausgiebig wie sehnsuchtsvoll, bis er sich umbringt. Goethes «Leiden des jungen Werther» lassen sich in einem Satz zusammenfassen, was den gefühlsbetrunkenen jungen Mann nicht dringender macht....
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