Maß halten!
Ein Lieblingssatz meiner Großmutter (Jahrgang 1923) war: «Besitz belastet.» Ein Gefühl, das jeder kennt, der in übervolle Kleiderschränke schaut oder sein Auto reparieren lassen muss. Freilich hatte meine Großmutter keine konsumkritische Haltung im Sinne, noch dachte sie an den gigantischen Ressourcenverbrauch im Dienste unserer heutigen Produktpaletten, die uns Glück und Selbstverwirklichung in der An -häufung von Konsumgütern versprechen. Es ist vielmehr eine Haltung der Genügsamkeit und des Maßhaltens, die in diesem Ausspruch zum Ausdruck kommt.
Eine Haltung, die geformt wurde durch ihre Erlebnisse während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Verzicht war keine generöse Geste von Menschen, die potenziell alles haben und daher privilegiert genug sind, überhaupt verzichten zu können. Ihr Verzicht war noch nicht einmal freiwillig. Der individuelle Verzicht unserer Zeit erscheint mir immer mehr als der Ablasshandel einer konsumistischen Gesellschaft, die im Besitz ertrinkt. Ein wohlfeiler Verzicht, da er mit keinerlei Opfer verbunden ist. Er ist ein Privileg: «Ich verzichte auf das, was mir potenziell zustehen könnte.» Darin steckt eben auch immer tief der Glaube, dass es uns zusteht. Sonst könnten wir nicht darauf verzichten. Ironischerweise affirmiert eine solche Form des Verzichts die konsumistische Lebensweise, da sie politisches oder gesellschaftliches Handeln zu einer Konsumentscheidung macht.
Stärker als der Gedanke des Verzichts interessiert mich die Idee von Genügsamkeit und Maßhalten. Von Suffizienz. Eine Idee von Wohlstand, die sich in Zeithaben bemisst. Eine Idee von Freiheit als Freiheit vom Wunsch, zu besitzen und anzuhäufen. In dieser Idee fehlt die Vorstellung vom Verzicht als Entbehrung. Der Verzicht ist hier die Geste des Zurück -weisens. Ich verzichte auf die Glücksversprechen einer unendlichen Warenwelt. Ich verzichte auf die Selbstbe -stätigung in Macht und Karriere. Ich verzichte auf die Erfüllung im Geld. Ich verzichte auf die Erlösungsfan -tasien eines Weltbildes, das alles und alle auf diesem Planeten zu einer Ressource gemacht hat.
Der Regisseur Alexander Eisenach arbeitet kontinuierlich am Deutschen Theater Berlin und am Münchner Residenztheater
Theater heute Jahrbuch 2023
Rubrik: Verzicht, Seite 55
von Alexander Eisenach
Am 24. Februar 2022 greift Russland das gesamte Territorium der Ukraine an. Es herrscht Krieg. Ein Krieg in Europa, sehr nah, sehr greifbar und sein Ausgang ungewiss. Gewiss ist aber, dass dieser Krieg unendliches Leid für die Menschen in der Ukraine bedeutet. Sie müssen in den Krieg ziehen, sie verlieren ihr Leben, sie verlieren ihre Familien, sie verlieren ihren Besitz – sie fliehen,...
Ganz allein für das Kind will sie eine Dampfnudel machen – zur Einschulung, für das große Fest, mit Schul -tüten und ganz viel Süßigkeiten. Saskia übt die berührende Rede vor dem Spiegel, baut verschiedene Pointen und Spannungsmomente ein, und ist selber ganz ergriffen. Doch gibt es zahlreiche Schwierigkeiten zu überwinden, bevor die Dampfnudel endlich auf dem Tisch steht. Ist Ines...
Plötzlich / aus dem Schlaf schrecken» lauten die ersten Worte in Thomas Freyers neuem Stück «Ajax», in dem er den trojanischen Krieg mit der Gegenwart verschneidet. Das böse Erwachen wird im Verlauf des Geschehens nicht nur die gleichnamige Hauptfigur treffen. Zunächst ist es jedoch der zehnjährige Jonathan, der in der «nächtlichen Stille» das Bett verlässt und «in der fernen Dunkelheit...