Vexierbilder der Gewalt
Der erste Schock stellt sich ein, wenn der Vorhang hochgeht. Man fühlt sich in ein Filmstudio oder ins Laientheater versetzt: links das Portal einer Kirche – die Handlung spielt 1414 zur Zeit des Konstanzer Konzils –, rechts das schmucke Fachwerkhaus des jüdischen Goldschmieds Eléazar, dazwischen ein Platz, der den Blick auf einen Wehrgang freigibt. Ein pittoreskes Mittelalter im überdimensionierten Puppenstubenformat, wie das Libretto es andeutet. Doch es sollte, scheinbar, noch schlimmer kommen.
Wenn der Chor nach dem einleitenden «Tedeum» auf die Szene strömt und sich die Massenhysterie aus Jahrmarktstaumel und Judenhass auf Eléazar und seine Tochter Rachel entlädt, werden wir Zeugen einer farbenfreudigen Verkleidungsshow, die aus Alltagsfiguren jene Laienschar macht, die als blindwütiges Kollektiv das grausame Katz-und-Maus-Spiel des antisemitischen Pogroms beginnt. Die überrumpelnde Theatralik, der Jossi Wieler und Sergio Morabito sich hier bedienen, erinnert an Elias Canettis Beschreibung der Hetzmeute in «Masse und Macht» und schreckt selbst vor der Groteske nicht zurück – wenn Neider dem Kaiserdarsteller die Krone und den Purpurmantel herunterreißen oder gleich drei ...
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Die Münchner Erstaufführung von Verdis «I masnadieri» fand überraschenderweise am Gärtnerplatztheater statt, das alles auf eine Karte setzte, sogar erstmals die italienische Originalsprache (mit deutschen Obertiteln) wagte und damit auf ganzer Linie gewann. Das betrifft nicht nur das differenziert spielende Orchester unter dem neuen Ersten Kapellmeister, dem...
Rossini-Opern, hat man ihre Funktionsweise erst einmal durchschaut, machen glücklich. Die großen dramatischen Konfrontationen laufen wie Schneeballschlachten ab: Die Kontrahenten schleudern sich in wachsender Erregung Koloraturen-Salven ins Gesicht. Lyrische Gefühle klettern hingegen auf langen Koloraturen-Treppen gen Himmel und wieder hinab. Dramatik setzt sich...
Als Konsumgut, das dem Publikum durch Momente etwas wert sei, die der Sache gar nicht wesentlich wären, werde es zu einem anderen als es selbst, hatte Adorno vor mehr als vierzig Jahren über das Phänomen Oper formuliert. Auf trivialer Ebene entspricht diesem Statement ein Cartoon, der 2005 anlässlich des Hype um Anna Netrebko bei der «Traviata» in Salzburg in einer...