Das Buch der Unruhe

Was bleibt von 2024/25?

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Man stelle sich das für eine Weltsekunde mal vor: Das Ende der Geschichte wäre da. Alexandre Kojève lässt es nur ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer nachträglich hinzugefügten Fußnote seines gleichnamigen Buchs – Summe sämtlicher Hegel-Vorlesungen des russisch-französischen Philosophen zwischen 1933 und 1939 an der Ecole pratique des hautes études – «Realität» werden, gleichsam als utopisches Ideal.

«Das Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte», lesen wir dort, «ist keine kosmische Katastrophe […] Der Mensch bleibt als Tier am Leben, das im Einklang ist mit der Natur […] Das Ende der menschlichen Zeit oder der Geschichte, das heißt die endgültige Aufhebung des eigentlichen Menschen oder des freien geschichtlichen Individuums, bedeutet ja ganz einfach das Aufhören des Handelns im eigentlichen Sinne des Wortes. Das heißt praktisch: das Verschwinden der Kriege und blutigen Revolutionen. Und auch das Verschwinden der Philosophie, denn da der Mensch sich nicht mehr wesentlich selbst ändert, gibt es keinen Grund mehr, die (wahren) Grundsätze zu verändern, die die Basis der Welterkenntnis und Selbsterkenntnis bilden.» Und dann folgt jener zentrale Satz, der die Welt als einen locus amoenus beschreibt. «Aber alles Übrige kann sich unbegrenzt erhalten. Die Kunst, die Liebe, das Spiel usw., kurz: alles, was den Menschen glücklich macht.» Kojève glaubte an das, was er niederschrieb. Und auch in der Folge gab es Theoretiker, die – wenngleich in anderer Gewichtung und Färbung – dieses versöhnliche Ende der Geschichte herbeidachten; so etwa Francis Fukuyama, der 1989, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten Osteuropas, dem doch recht naiven Glauben anhing, nun werde die Sonne der Freiheit hinter den Wolken hervortreten; das Ende des Kalten Krieges sei gleichbedeutend mit dem Beginn einer positiven Epoche. Nachzulesen in seinem Buch «The End of History and The Last Man», das zu einem wahren Bestseller wurde. Wie sehr Kojève und Fukuyama irrten (übrigens auch darin, sich auf Hegel zu berufen, der aber nie je ausdrücklich von einem «Ende der Geschichte» gesprochen hat), beweist schon ein oberflächlicher Blick quer über den Planeten. Es herrscht, und das unvermindert, jene unstillbare «Unruhe», die nach Hegel das «Wesen des Wirklichen» ausmacht und die Geschichte unwiderruflich in Bewegung hält. Daran ändert auch der Versuch vieler Intellektueller, eine Ära des «Danach» auszurufen, wenig; der Schweizer Philosoph Dieter Thomä hat dies in seinem jüngst erschienenen «Nachruf auf eine Vorsilbe» eindrucksvoll unter Beweis gestellt. «Post-», heißt sein bemerkenswerter Großessay, geizt nicht mit Invektiven gegen eine Welt der Neologismen und nimmt vor allem das wohl berühmteste Präfix aller Zeiten blitzgescheit, ironisch-augenzwinkernd aufs Korn. Für Thomä sind viele der Postismen reine Wortklauberei; mit Verve diagnostiziert er eine inflationäre Flut dieser «erfolgreichsten Erfindung im Bereich der Ideengeschichte und Begriffspolitik seit 1945». Neben den Großformen «Posthistoire», «Postmoderne» und «Postkolonialismus» stellt er unzählige «Postismen» an den Pranger, unter anderem Mode-Begriffe wie «posttraditional», «postsäkular», «postmetaphysisch», «postfaktisch», «postanthropozentrisch», «postödipal», «postmaterialistisch» und «postkapitalistisch». Und auch das «postdramatische und postmigrantische Theater» führt er als Beispiele für ein deterministisches Verständnis von Welt ins Feld, das letztlich einem Diktum Friedrich Nietzsches aus dessen philosophischem Standardwerk «Die fröhliche Wissenschaft» folgt. Nietzsche stellt darin, um Wesen und Wirkung der Condition humaine zu fassen, lauter Fragen («Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch Oben und Unten?»), um schließlich die zentrale Problematik menschlichen Daseins zu berühren: «Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?»

Die sogenannte Postmoderne hat darauf geantwortet, indem sie die Möglichkeiten des Lebens bis ins schier Unendliche dehnte – das Schlagwort vom anything goes ist Legende. Doch stimmt das auch? «Geht» wirklich alles? Oder ist dies nur ein Lippenbekenntnis? Oberflächliches Plädoyer? Vorspiegelung eines Scheinens? Und hat nicht der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace recht, wenn er moniert, dass von der Blütezeit der Postmoderne nicht mehr übrig geblieben sei als «Sarkasmus, Zynismus, eine manische Langeweile, Misstrauen gegen jede Autorität, Misstrauen gegen alle Verhaltensregeln und eine schreckliche Neigung zur ironischen Diagnose unseres Missvergnügens – anstelle des Bestrebens, nicht nur zu diagnostizieren oder lächerlich zu machen, sondern zu erlösen»?

Ersetzt man den pathetisch-hybriden Ausdruck der «Erlösung», der schon bei Richard Wagner zweifelhaft und überfettet anmutet, durch den Begriff der «Weltdurchleuchtung», wäre man wieder auf Kojèves philosophischer Insel der Glückseligen angelangt. Und damit mitten in der Kunst, in der Literatur, auf dem Theater, bei der Bildenden Kunst – und in der mannigfaltigsten aller Künste, der guten, alten Oper. Und blickt man nun zurück auf die Saison 2024/25, lässt sich zumindest eines schon mal sagen, ohne vor Scham rot zu werden: Die Gattung – sei sie Teil einer «Spätmoderne» (Andreas Reckwitz), einer «Post-Postmoderne» (Tom Turner) oder, wie es Dieter Thomä präferiert, einer Moderne, die nach wie vor dazu steht, modern zu sein und nicht sich selbst hinterher zu hecheln – hat sich erneut bewährt – als ein Ort des lebendigen, widerständigen Kunstdiskurses. Und hier waren es vor allem zahlreiche Uraufführungen, die für Gesprächsstoff sorgten, weil sie – über die Zeiten hinweg – gesellschaftspolitisch relevante Themen aufgriffen, im buchstäblichen Sinne «kunstvoll» umzusetzen wussten und damit Milo Raus Diktum von der «offenen Gegenwart» in musiktheatralische Wirklichkeit überführen. In seinem Essay «Die Rückeroberung der Zukunft» hat der streitbare wie umstrittene Regisseur es als eine zentrale Aufgabe der Kunst definiert, «der Gegenwart hinten und vorne die Ausgänge freizuhalten, um uns, in einem Satz, wieder in geschichtliche Bewegung zu bringen». Denn nur eine offene Gegenwart, in der man aus Distanz zum Geschehen Stellung nehmen kann, sei darstellbar. Und nur eine darstellbare Gegenwart könne als veränderbar begriffen werden.

Beispielhaft angeführt seien hier zwei Werke. Einmal Michael Wertmüllers Musiktheater «Echo 72. Israel in München», das an der Staatsoper Hannover in Lydia Steiers geschichtsbewusster Inszenierung zu erleben war – als Überblendung einer historischen Begebenheit (das mörderische Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Sommerspielen 1972) mit zeitgenössischen Klängen. Gerade mit Blick auf die aktuelle Situation im Nahen Osten und die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen wirkte die Aufführung wie ein doppelter Spiegel: Einmal wurde das Geschehen von damals und der Umgang mit dem Grauen «reflektiert», zugleich aber die Gegenwart in den Fokus gerückt und damit – nicht jedoch im marxistischen, sondern im hegelianisch-dialektischen Sinne – die Frage nach der Wiederholbarkeit von Geschichte gestellt. Ein zwar dem Ausmaß nach nicht vergleichbares, aber in seiner Bedeutung ähnliches geschichtliches Sujet thematisierte das Musiktheater «Der rote Wal» der Brüder Bhatti in Stuttgart, das sich mit der RAF und den politischen Auswirkungen des «Deutschen Herbstes» auf die Demokratie auseinandersetzte. Dass die Oper solche Reizthemen auf die Bühne bringt und durchleuchtet, zeigt, wie relevant sie als Kunstform nach wie vor sein kann, als Stätte einer ständigen produktiven Unruhe.

Das Gleiche lässt sich auch über die «AUFFÜHRUNG DES JAHRES» sagen: Mieczysław Weinbergs Oper «Der Idiot», die – nach ihrer Wiederbelebung am MusikTheater an der Wien vor zwei Jahren – im Salzburger Festspielsommer 2024 auch die Felsenreitschule eroberte. Schon das Bühnenbild von Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak war ein echter Hingucker: Wie auf einem laufenden Band zogen die einzelnen Räume gleichsam am inneren Auge vorüber (ein visueller Eindruck, der durch die Videos von Kamil Polak noch verstärkt wurde), doch waren all diese Lokationen eben auch eng miteinander verbunden; fast konnte man den berühmten Satz aus Wagners «Parsifal» verkehren: Zur Zeit wird hier der Raum. Und jeder Zentimeter dieses Raums erlangte in Krzysztof Warlikowskis poetischer Inszenierung Bedeutsamkeit und Dringlichkeit.

Und dann waren da noch die Sängerdarstellerinnen und -darsteller. Eine Wucht neben der anderen. Aber einer, der herausragte: Bogdan Volkov, der «SÄNGER DES JAHRES». Er zeichnete seinen Fürst Myschkin als großen Liebenden, der alles und jedem verzeiht, selbst jenen Mord, den der verruchte Rogoschin an Nastassja Filippowna verübt, weil er eben nicht neben den Dingen, sondern auch über ihnen steht. Und je länger man Volkov bei seinem Tun zuschaute und seiner lyrischen Tenorstimme zuhörte (die von Mirga Grazinytė-Tyla am Pult der Wiener Philharmoniker auf Samt gebettet wurde), umso mehr konnte man den Eindruck gewinnen, dass dieser scheinbar naive Narr im Herzen doch ein Fürst war. Volkov gelang mit größter Glaubwürdigkeit das Psychogramm eines Mannes, der begehrt, nicht im Lacan’schen Sinne einer körperlichen jouissance, sondern aus der Überzeugung heraus, dass Philia und Agape die wertvolleren Liebesformen sind, und der gerade deswegen leidet. Volkovs Fürst ist ein Idealist, der an der Wirklichkeit zugrunde geht; ein Ritter von der traurigen Gestalt, der seine Dulcinea (die wunderbare Aušrinė Stundytė als Nastassja Filippowna) vergebens anbetet und dennoch als Einziger imstande ist, all die verlorenen (russischen) Seelen um sich herum zumindest für Sekundenbruchteile aus ihrem Gefängnis zu befreien – und dessen eindrücklichster, zugleich erschütterndster Moment an diesem denkwürdigen Abend die Darstellung jenes epileptischen Anfalls ist, der bei Dostojewski detailliert beschrieben ist, in Weinbergs Oper aber nur am Rande Erwähnung findet. Kein Wunder, dass Nastassja Filippowna, von der sanftmütigen Liebesklarinette pianissimo begleitet, an ihn den entscheidenden Satz im gesamten Stück richtet: «Ich habe zum ersten Mal einen Menschen gesehen.»

Giacomo Puccini hatte solche Menschen stets im Sinn, wenn er seine Opern komponierte und nach jenem grande dolore in piccola anime suchte, der viele seiner vor allem weiblichen Protagonisten nicht nur im Herzen, sondern auch auf der Zunge tragen. Cio-Cio-San ist eine von ihnen. In Baden-Baden war eine Künstlerin in dieser Rolle zu erleben, deren Timbre phantastisch dazu passt – Eleonora Buratto. Ihre Butterfly besaß alles, wonach die Rolle verlangt: eine sanftblühende Höhe, die nicht einen Takt lang ins Schrille tendiert (was die schönste Arie der Oper, «Un bel vedremo», eindrucksvoll unterstrich), eine ebenmäßige wie satt-gefüllte mezza voce und jene lyrische Energie, die Cio-Cio San aufbringen muss, um ihre Qualen glaubhaft, aber ohne Druckmomente in Töne zu fassen. Die italienische Sopranistin wurde für ihre fabelhafte vokale Darbietung (die sich auch in ihrem authentischen Spiel beglaubigte) zur «SÄNGERIN DES JAHRES» gekürt.

Ein Kuriosum war in der Rubrik «URAUFFÜHRUNG DES JAHRES» zu bestaunen. Denn ausgezeichnet wurde erneut ein Werk (und seine Interpretation), das auf den ersten Blick als «neu» gar nicht zu erkennen wäre, wüsste man nicht, dass der strenggläubige Katholik Charles Tournemire seine vierte Oper «Le petit pauvre d’Assise» zwar 1939 vollendete (wenige Wochen vor seinem mysteriösen Tod in der Bucht vor Arcachon), dass diese auf einer Bühne aber noch nie zu erleben war. Kay Metzger, der am Theater Ulm schon Tournemires «Légende de Tristan» herausgebracht hatte, bewies nun mit der Ausgrabung von «Le petit pauvre d’Assise» erneut ein hervorragendes Gespür für die Qualität eines nur wenigen Auserwählten bekannten Werks. Und immerhin einen berühmten Paten hatte er bei und hinter sich. Tournemires Schüler Olivier Messiaen, dessen (einzige) Oper «Saint François d’Assise» stoffäquivalent ist, rühmte weiland die Kunst seines Mentors: «Eines Tages wird Tournemire Gerechtigkeit widerfahren.» So nun erneut geschehen exakt am 8. Mai, dem 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus, in der packenden Inszenierung des Ulmer Intendanten und unter der feinsinnigen musikalischen Leitung von Felix Bender. Ein Wunder war es nicht: Der Vatikan hatte sechs Wochen zuvor einen Brief ins Theater entsandt, worin es hieß, dass Papst Franziskus für alle, die an der Uraufführung mitwirken würden, von Herzen seinen Segen erbitte. Die Bitte fand Gehör und Tournemires Franziskus-Oper größten Gefallen.

Dass Tobias Kratzer nach 2020 erneut auf dem Siegertreppchen steht, wird nur diejenigen überraschen, die nicht um den Phantasiereichtum dieses umtriebigen Künstlers wissen. Überraschender ist schon die Tatsache, dass Kratzer den Titel «REGISSEUR DES JAHRES» für die Deutung eines Stücks erhielt, das eigentlich als «auserzählt» gilt – für den Vorabend zu Richard Wagners «Ring»-Tetralogie. Doch wie schon so viele Male zuvor, (er)fand Kratzer gemeinsam mit seinem Ausstatter Rainer Sellmaier auch für das «Rheingold» an der Bayerischen Staatsoper eine bildreiche szenische Rhetorik, die das Ungewöhnliche hervorhob, ohne das Triviale außen vor zu lassen. Wie so oft bei ihm, reichten sich Realität und Fiktion die Hand, ohne dass man immer genau wüsste, wo das historische Zitat Bruderschaft mit dem Zeitgeist trinkt. Das war, man kann es nicht anders sagen, betörend vielfältig und – als Idee – brillant. Kratzer befreite sich von der kapitalismuskritischen Klammer und inszeniert das Stück als eines über die Condition humaine – mit allen nur erdenklichen Abgründen und Anspielungen. Es ging dabei um das, was Wozzeck in dem nach ihm benannten Stück einmal auf den Punkt bringt. «Der Mensch ist ein Abgrund.»

Womit wir schon bei der «WIEDERENTDECKUNG DES JAHRES» wären. Den Zuschlag erhielt ein Werk, das aufgrund seiner archaischen Wucht und überbordenden Energie sowie den in vielen Facetten schillernden Orchesterfarben nun wohl endgültig seinen Platz auf den Bühnen der ehemaligen Gelehrtenrepublik finden dürfte: Ethel Smyth «The Wreckers» (alias «Les naufrageurs» alias «Strandrecht»). Es ist wohl vor allem der fast polyglott anmutende Stilpluralismus, der diese collageartige Oper auszeichnet, dazu eine Geschichte, die von der menschlichen Unzulänglichkeit erzählt und von der Liebe, die alles überwinden könnte – wäre da nicht auch ihr Gegenteil im Spiel sowie ein fehlgeleiteter religiöser Eifer … Um einige Ecken gedacht, geht es darum auch in einem Werk, das nur sehr selten auf der Opernbühne zu sehen ist, weil es genuin eher an einen anderen (sakralen) Ort gehört: Mendelssohn Bartholdys Oratorium «Elias». Mit diesem Stück verabschiedete sich Andreas Homoki nach 13 Jahren als (regieführender) Intendant vom Opernhaus Zürich. Und er tat dies so fulminant, dass das von Homoki geführte Theater auch deswegen zum «OPERNHAUS DES JAHRES» gekürt wurde. Und dies zu Recht: Die Stückauswahl bestach durch Erfindungsreichtum und dramaturgisches Geschick, fast sämtliche Produktionen der Spielzeit 2024/25 besaßen Geist, Geschmack, zum Teil sogar das Gepräge des Genialen.

Sucht man einen Dirigenten, auf den dieses Attribut zutrifft, landet man unweigerlich und immer wieder aufs Neue bei Kirill Petrenko. Seine Magie, gepaart mit einem singulären Gestaltungswillen und einer einzigartigen Präzision im Detail bewirkte auch in dieser Saison wieder ein kleines Opernwunder – bei Puccinis «Madama Butterfly» in Baden-Baden. Dafür wurde Petrenko zum achten Mal als «DIRIGENT DES JAHRES» gekürt. Ihm auf der Spur ist allerdings ein Kapellmeister der jüngeren Generation: Thomas Guggeis rüttelte immerhin ein wenig an seinem Thron – was wiederum sehr nachvollziehbar auch dafür sorgte, dass das von ihm geführte Frankfurter Opern- und Museumsorchester sich den Titel «ORCHESTER DES JAHRES» mit dem Bayerischen Staatsorchester und der Meininger Hofkapelle geschwisterlich teilt.

Einen Sieger gab es in zwei anderen Rubriken. Der Chor der Komischen Oper Berlin wurde mit dem Titel «CHOR DES JAHRES» ausgezeichnet, «BÜHNENBILDNER DES JAHRES» ist Paul Zoller, der schon seit Langem wundersam-surreale, symbolstarke Phantasieräume für die Inszenierungen insbesondere von Lorenzo Fioroni ersinnt, so auch in diesem Jahr für «Creation(s)» (in Mannheim) und Kaija Saariahos «Innocence» (in Dresden). Und wo wir schon beim modernen Musiktheater sind: Anna Nekhames wurde für ihre hinreißende sängerschauspielerische Leistung als Titelfigur in Aribert Reimanns «Melusine» an der Oper Frankfurt zur «NACHWUCHSSÄNGERIN DES JAHRES» gewählt. Der Sopranistin mit der zarten Zauberstimme gehört ganz gewiss die Zukunft. Anselm Gerhard, einer der profiliertesten Verdi-Experten und Kenner des französischen Fachs, war in seinem Denken und Schreiben immer ein hellwacher Zeitgenosse. Nun hat der renommierte Musikologe mit «Vorhang auf?» das «BUCH DES JAHRES» geschrieben. Und nur ein Schelm würde jetzt vermuten, dass jenseits der Alpen die klugen Leute sitzen und «Theater machen»: Gerhard lebt wie der Post-Kritiker Dieter Thomä in der Schweiz. Seltsam genug: Auch Christoph Marthaler, der mit seiner Beethoven-Durchdringung «Tiefer Graben 8» am Theater Basel und der Menschenseelen-Erkundung «Wachs oder Wirklichkeit» an der Berliner Volksbühne die Rubrik für die «ungewöhnlichste(n) Opernerfahrung(en)» sorgte, ist Schweizer. Kein Schweizer war Friedrich Hölderlin. Er war ein waschechter Schwabe. Ihm aber verdanken wir einen Satz, der nicht nur das Wesen von Kunst, sondern auch die Hoffnung, man könne vermittels von Kunst die Welt ein wenig schöner gestalten, wortmächtig zum Ausdruck bringt. Und wie schrieb der Dichter Friedrich Hölderlin einst: «Der Lust bleibe geweiht der Tag.»

1. Opernhaus Opernhaus Zürich
2. Sängerin und Sänger Eleonora Buratto, Bogdan Volkov
3. Regie Tobias Kratzer
4. Dirigent Kirill Petrenko
5. Uraufführung
Tournemire: «Le petit pauvre d’Assise», Theater Ulm
6. Aufführung
Weinberg: «Der Idiot», Salzburger Festspiele 2024
7. Wiederentdeckung
Smyth: «The Wreckers», Badisches Staatstheater Karlsruhe, Staatstheater Meiningen, Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
8. Bühne Paul Zoller
9. Kostüme –––
10. Nachwuchskünstlerin Anna Nekhames
11. Orchester Bayerisches Staatsorchester, Frankfurter Opernund Museumsorchester, Meininger Hofkapelle
12. Chor Chor der Komischen Oper Berlin
13. Ungewöhnlichste Opernerfahrung
Christoph Marthaler: «Tiefer Graben 8» am Theater Basel
14. Buch
Anselm Gerhard: «Vorhang auf?» (Metzler/Bärenreiter) 
15. CD/DVD –––


Opernwelt Jahrbuch 2025
Rubrik: Bilanz des Jahres, Seite 52
von Jürgen Otten

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