Komm zur Sache, Schätzchen!

Kirill Serebrennikov verwandelt Schnittkes «Leben mit einem Idioten» am Opernhaus Zürich in ein dadaistisch-subjektivistisches Metatheater

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Skandal! In großen Lettern stand das Wort im Raum, seit eine Zürcher Sonntagszeitung ans Licht gebracht hatte, dass am Opernhaus Zürich vor der Premiere von Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» massiv in Libretto und Partitur des Stücks eingegriffen worden sei. Der Schuldige war rasch ausgemacht, es war der Regisseur Kirill Serebrennikov, der dafür bekannt ist, die von ihm inszenierten Stücke seinen interpretatorischen Intentionen einigermaßen rücksichtlos anzupassen.

Unterstrichen hat er seine Haltung als Interpret durch einen im Programmbuch abgedruckten Satz, der aufschlussreicher nicht sein könnte. Häufig, so meinte er, empfinde er die Musik in der Oper als einengend, sie setze Grenzen, und als Regisseur müsse er das musikalische Narrativ bedienen – was hier, bei «Leben mit einem Idioten», glücklicherweise eben nicht der Fall sei. In der Folge gingen die Wogen hoch; die Vorstellung verlief dann trotz der durch die ausgelösten Provokationen störungsfrei und wurde bejubelt.

Was war geschehen? 1992, als «Leben mit einem Idioten» durch die damals von Pierre Audi zu neuen Horizonten geführte Nationale Opera Amsterdam zur Uraufführung gebracht wurde, lag die UdSSR in Trümmern, eine erste frische Brise war hinter den Eisernen Vorhang eingedrungen. In diesem Licht steht «Leben mit einem Idioten», eine Erzählung von Viktor Jerofejew aus dem Jahr 1980, die unpubliziert bleiben musste und vom Autor für Alfred Schnittke zu einem kristallinen Operntext umgeformt wurde. Die Amsterdamer Uraufführung geriet, nicht zuletzt dank des scharf gewürzten Sujets, zu einem Fest – zu einem Fest der befreiten russischen Kunst. Neben Schnittke und Jerofejew war Mstislaw Rostropowitsch mit von der Partie. Er dirigierte, zeigte am Klavier seine Künste als Tangospieler und brachte mit seinen Kantilenen auf dem Cello Süßstoff ein. Für die schonungslose Inszenierung hatte der legendäre Boris Pokrowski von der Moskauer Kammeroper gesorgt, für die Ausstattung der berühmte Konzeptkünstler Ilja Kabakov. Und wer mit dem Idioten gemeint war, ließ die Lenin-Maske des Wowa (Wladimir) genannten Ungeistes leicht erraten. Dem zusammengebrochenen System der Menschenverachtung wurde hier, auch dank der nicht nur polystilistischen, sondern auch anspielungsreichen Musik Schnittkes, ein Abgesang der denkbar grotesken Zuspitzung gesungen.

Von all dem wollte Kirill Serebrennikov nichts mehr wissen. Wer sich heute noch mit Lenin befassen wolle, fragte er rhetorisch? Und Jerofejew, der mit dem «Großen Gropnik» kürzlich den wohl besten Putin-Roman geschrieben hat, irritierte mit der Bemerkung, als Opernfigur sei Putin absolut uninteressant. So wurde denn eifrig Hand angelegt und das Meiste eliminiert, was an den implodierten sowjetischen Alltag von damals erinnert. Wowa, das personifizierte Böse, das genuin Zerstörerische, das in eine Ehe eindringt und dort alles kapital durcheinanderbringt, wurde in «Schätzchen» umbenannt, der Text da und dort neu gefasst. Nicht das Besondere der Lebenssituation von 1992 sollte aufscheinen, sondern das allgemeine Menschliche; der Idiot in jedem von uns sollte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Als deutender Ansatz lässt sich das nachvollziehen, zumal vor dem Hintergrund dessen, was Serebrennikov in Russland widerfahren ist. Zugleich gab die Aufführung im Opernhaus Zürich zu erkennen, in welchem Maß dem Bühnenwerk Schnittkes und Jerofejews dadurch die Zähne gezogen werden. Aus der bitterbösen Satire wurde ein dadaistisches Spektakel. Und aus Schnittkes so eigener, eigenartiger Musik eine etwas gewöhnliche moderne Oper.

Gewöhnlich? Nein, vielleicht doch und insofern nicht, als «Leben mit einem Idioten» in Zürich nicht als Oper erscheint, sondern als Interpretation. Gewiss, die Aufführung einer Oper ohne Interpretation ist unmöglich; als Möglichkeit gezeigt wird hier dagegen die Aufführung einer Interpretation ohne Oper. Uninteressant ist das nicht, wird das Stück doch aus seiner ursprünglichen Befindlichkeit klar in die Jetztzeit verlagert – und auf eine ganz private Ebene, jene des Regisseurs. Kirill Serebrennikov ist ein Berserker, der die ihm vorliegenden Stoffe gnadenlos durchschüttelt. In Zürich ist der Idiot der Regisseur selbst: Matthew Newlin, der seine ungeheuer anspruchsvolle Partie über der Silbe «Äch» mit fulminanter Geschmeidigkeit singt, erscheint im Outfit Serebrennikovs – als Alter Ego des Bühnenkünstlers. Ihm zur Seite steht in einer stummen Rolle und einer hinreißenden Performance der splitternackte Campbell Caspary, der an einem Höhepunkt des Abends in einem Strahlenkranz erscheint. Um Sexualität als Zentrum des Lebens geht es hier; dies ungeschminkt denken und offen zeigen zu können, scheint für Serebrennikov, der seit einiger Zeit in Berlin lebt, der Inbegriff seiner persönlichen neuen Freiheit darzustellen.

Ort des Geschehens ist ein kahler, weißer Raum, im Hintergrund durch ein ansteigendes Podest begrenzt, von dem aus der ebenfalls ganz in Weiß gekleidete Chor des Opernhauses Zürich, von Janko Kastelic, Johannes Knecht und Ernst Raffelsberger einstudiert, die Vorgänge auf der Spielfläche wie im antiken Drama kommentiert, ja vorantreibt. Viel zu schauen gibt es auf dieser Spielfläche – so viel, dass das Wirken der Philharmonia Zürich im Graben merklich in den Hintergrund gerät. Untadlig agiert wird unter der Leitung des im Bereich der neuen Musik hocherfahrenen Dirigenten Jonathan Stockhammer, doch der klangliche Biss, der als Gegenpol zur szenischen Bildermacht vonnöten wäre, will sich partout nicht einstellen. Gesungen und, vor allem, gespielt wird jedoch meisterhaft. Dass für die Partie des Ich kein Geringerer als Bo Skovhus gewonnen werden konnte, erweist sich als Glücksfall. Der Sänger, der ebenso sehr als Schauspieler geliebt wird, zieht alle Register seines Könnens. Ihrem Bühnengatten in keiner Weise nachstehend Susanne Elmark in der Partie der Frau: hochdramatisch ausgestaltet und in jedem Moment packend verkörpert. Mehr als solide bewältigt werden auch die kleineren Aufgaben des Wärters (Magnus Piontek) und des von der Frau innigst verehrten Dichters Marcel Proust (Birger Radde). Ist am Ende doch etwas viel verpackt in den Abend? Bleibt ausreichend Raum, im Verfolgen der Produktion der Frage nachzugehen, ob sich das Kopf-ab-mit-der-Gartenschere nicht schon vor dem ersten Ton ereignet habe, ob das Bühnengeschehen nicht als rückblickende Horrorvision der Ich-Figur zu lesen wäre? Wie dem auch sei, wer sich über die Dominanz des szenischen Narrativs beschweren möchte, sieht sich am Ende eines Besseren belehrt. Da erklingt nämlich der ergreifende Chor «Herbst» aus Alfred Schnittkes Musik zum Film «Agonie» von Elem Klimov, die, 1982 vollendet, von den russischen Behörden zerstört wurde, später aber rekonstruiert werden konnte. Womit sich der Kreis in eigener Weise geschlossen hätte.

Schnittke: Leben mit einem Idioten
ZÜRICH | OPERNHAUS 
Premiere: 3. November 2024
Musikalische Leitung: Jonathan Stockhammer
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov
Video: Ilya Shagalov
Chor: Janko Kastelic, Johannes Knecht, Ernst Raffelsberger Choreographie: Evgeny Kulagin Solisten: Bo Skovhus (Ich), Susanne Elmark (Frau), Matthew Newlin (Idiot), Campbell Caspary (Double des Idioten), Magnus Piontek (Wärter), Birger Radde (Marcel Proust) u. a. 
www.opernhaus.ch


Opernwelt Dezember 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 4
von Peter Hagmann

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