Zürich: Chefsache Weihnachtsmärchen
Es war einmal ein Märchenonkel, dem wuchs das Märchenonkeln über den Kopf. Eben noch hatte er sich behaglich auf den Proszeniumsstufen niedergelassen, Rock und Knautschhose zurechtgezupft, die Kinderschar im Zürcher Pfauenparkett fixiert und sich den ledernen Folianten mit den Sammelerzeugnissen der Brüder Grimm auf den Schoß geladen. Mit einem Mal klappte er das Buch zu und sagt: «Einen Scheiß erzähle ich euch.»
Der Märchenonkel meinte das ernst. Etwas musste sein Vertrauen in das Volksbildungsprogramm der Brüder Grimm erschüttert haben.
Jedenfalls nölte er drauf los, dass er zwar wisse, wie Rumpelstilzchen heißt und was die Großmutter für lange Zähne hat, aber dass er den Piepfratzen im Publikum lieber was «über die Wahrheit von der Welt» erzählen wolle, bevor sie ihn ohnehin mit Papis Maserati plattfahren.
Schade, dass das Zuklappen der Buchdeckel so viel historischen Staub aufgewirbelt hatte. Man hätte sonst bestimmt gesehen, wie sich die blondgraue Märchenonkelmähne bei diesen Worten an den Spitzen wutbürgerrot verfärbte. Die Wahrheit, man ahnte das rasch, hatte mit dem Fünftaler-Lohn zu tun, über den sich der Erzähler beklagte. Es trat dann aber auch gleich ein Aufpasser ...
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Theater heute Januar 2020
Rubrik: Chronik, Seite 62
von Stephan Reuter
Eine Performance von
Nicoleta Esinencu, Antosea Darca und Elena Anmeghichean, Catalina Bucos, Doina-Romanta Dochitan, Nora Dorogan, Ciprian Marinescu, Kira Semionov, Elena Sîrbu, Doriana Talmazan, Artiom Zavadovsky
Unter Anrufung der Geister unserer Mütter und Großmütter befehlen wir die Verdammung der Monogamie
ALLE
Ging das Mädchen seines Wegs
traf die Monogamie...
Im Anfang ist da nur dieses eine Wort. Klingt natürlich im Englischen viel charmanter, und noch charmanter klingt es, wenn es aus dem Munde eines echten Gentleman herausströmt wie ein Stück Sahnecremetorte. Und genau so ist auch der Auftritt von Sir Henry zu Beginn von «Howl» in der Volksbühne Berlin: Im eleganten Anzug, auf dem Haupt einen schicken schwarzen Hut,...
Das nennt man vorausblickende Spielplangestaltung: Just an jenem 10. Oktober, an dem die Akademie in Stockholm bekannt gab, dass der Literaturnobelpreis 2019 an Peter Handke geht, hatte in Klagenfurt dessen Drama «Die Stunde da wir nichts voneinander wussten» Premiere. Das stumme Stück besteht aus unzähligen Mikrodramen – oder eher Nanodramen – und ist ein...