Offener (Schlag-)Austausch
Alle drei Jahre wechselt beim Augsburger Brechtfestival turnusmäßig die künstlerische Leitung. Dabei gehört es jeweils zum Narrativ, dass der Neue (eine weibliche Kuratorin gab es bislang noch nicht) die ganze Veranstaltung erst einmal wachküssen muss. Als wäre das, was die Vorgänger hinterlassen haben, ungenießbar alter Kaffee.
Ein ewiges Ringen um Neubeginn sozusagen.
Dabei hatte bereits 2006 der Münchner Dichter Albert Ostermaier die damals ziemlich kühle Beziehung der Stadt Augsburg zu ihrem großen Sohn mit einer wilden Poetry-Party unter dem Label ABC – Augsburg Brecht Conntected – aufgemischt. Nach entsprechendem Kater und eini -gem Zoff wurde Ostermaier unsanft verabschiedet und 2010 mit der Gründung des heutigen Brechtfestivals erst einmal auf solides Starprogramm gesetzt. Sieben Jahre lang holte Joachim Lang, Journalist, Filmregisseur und promovierter Brechtexperte, Rang und Namen meist ohne Ortsbezug in die Stadt. Nach diesem Import-Rummel setzte der Berliner Regisseur Patrick Wengenroth endlich auf eine spezifische Verknüpfung von Werk, Stadt und Menschen: «Brechtfestival für Städtebewohner*innen» hieß die letzte von ihm verantwortete Ausgabe 2019, in der aktuelle Arbeiten der freien Theaterszene einen wesentlichen Platz einnahmen. Danach ließen sich Tom Kühnel und Jürgen Kuttner von den Corona-Bedingungen nicht ausbremsen, nutzten die Gelegenheit als Spielfeld für allerlei digitale Formate und veranstalteten im letzten Jahr zusammen mit dem Staatstheater Augsburg noch eine große Sause im Martinipark.
Und jetzt Julian Warner, Performancekünstler, Musiker (aka Fehler Kuti), Kulturanthropologe und ein gewitzter DIY-Dilettant, der keinen Hehl daraus macht, seine Brecht-Gesamtausgabe erst nach der Berufung zum Festivalleiter angeschafft zu haben. «Ich gehe nicht davon aus, dass Brecht hier irgendjemandem fehlt», stellt er gleich mal im Vorfeld seiner ersten Festivalausgabe in einem Interview mit dem BR klar. Bei ihm selbst war es auch keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eher Skepsis gegenüber dem belehrenden Moralisten BB der späten Jahre. Wäre da nicht Fredric Jame -son, US-amerikanischer und marxistischer Literaturwissenschaftler, und sein Werk «Brecht und Methode», das für Warner einen Weg eröffnet, um zwar mit Brecht im Gepäck, aber nicht als einzigem Anlass in die Realität der Augsburger Vorstädte auszuschwärmen.
Kunst als Raumöffner
Bei einem Erkundungsspaziergang verschlug es das Team mehr oder weniger zufällig über die Brücke in den bevölkerungsreichsten, kulturell eher unterversorgten Arbeiterstadtteil Lechhausen, wo man sich am Döner-Imbiss in einer stillgelegten Tankstelle sofort richtig angekommen fühlte. Mit seinem breiten Kulturbegriff hat Warner sowieso keine Schwierigkeiten, eventuelle Gräben zwischen Hochkultur und elementaren Traditionsorten wie Saunawelt oder Trachtenverein zuzuschütten, und versteht sich demzufolge nicht als elitärer Brecht-Botschafter, sondern als jemanden, der zwar durchaus Synergien einbringen, sich aber auch etwas abholen möchte.
Aufeinander zugehen, sich kennenlernen und dabei Neues entdecken oder erfinden, so die Methode, mit der Warner sich in seinem ersten Festivaljahr unter dem Motto «Brecht’s People» unter die Leute mischte und am Geburtstag mit einer Parade vom Goldenen Saal im Rathaus über den Lech zum Veranstaltungszentrum der Alevitischen Gemeinde in einem Gewerbegebiet am östlichen Stadtrand umzog. Hier fand ein paar Tage später als Höhepunkt die von Warner und Veronika Maurer inszenierte Eigenproduktion «Kampf um Augsburg» statt, ein Wrestlingspektakel mit Größen der Szene wie Jazzy Gabert alias «Alpha Female» und Kevin Kaiden alias «Die Härte aus Schwaben», bei dem die brennenden Themen der Stadt lautstark und schlagkräftig verhandelt werden.
Zu Beginn lässt sich noch ein halbstarkes «Gespenst von Augsburg» von der aggressiven «anonymen Anruferin» mit der Handtasche auf die Bretter nageln, «Nature Grrrl» (Zelina Power) räumt auf mit dem bräsigen «Business as usual» und Boris Pain als Krankenpfleger geht im Kampf gegen seinen Burn-out zwar mehrfach zu Boden, rappelt sich aber immer wieder auf; und zuletzt teilt die «Friedensstadt» mit silbernen Flügeln noch selbst aus, um dem «Münchner Spezi» gehörigen Respekt vor dem Augsburger Original einzubläuen. Dazu tobt der Saal, als ginge es tatsächlich ums Überleben, und setzt Energien frei, von denen das engagierteste Stadttheater sonst nur träumen kann.
Wer es sanfter mag, konnte auf Spaziergängen am Ufer den Spuren des jungen Brecht folgen, sich beim Verfassungskonvent einer Or -ganismenrepublik des Club Real zum Fürsprecher der Kantigen Laubschnecke oder eines Mooses namens Sparriger Runzelbruder machen, rücklings auf einem Rollbrett unter einem vom Künstlerkollektiv God’s Entertainment und Augsburger Bürger:innen gewebten Teppich mit Brecht-Konterfei schräge Videoarbeiten zum Thema Migration und Integration entdecken oder in der Traditionsgaststätte Saalbau Krone einem leereichen Vortrag von Murat Güngör und Hannes Loh über die Wurzeln des deutschen Hip-Hop in der postmigrantischen Szene lauschen.
Und, ach ja, ein bisschen Originaltext Brecht gab es schon auch, zum Beispiel mit dem Gastspiel von Antigone Akgüns kämpferisch kluger Reflexion «Leer/Stand – Der Brotladen oder Wem gehört der Stadtraum?», einem Gastspiel des Theaters Bremen, das auch in einer aufgelassenen Sparkassen-Filiale in Lechhausen Sinn macht. Ob sich das Festival so neu im Bewusstsein der Bevölkerung verankert oder sich durch allzu viel kleinteiliges Programm aus dem Fokus schießt, muss man abwarten. Nächstes Jahr soll es im bunten, seit Jahrzehnten von Aussiedlern aus dem russischen Raum geprägten Stadtteil Oberhausen weitergehen, und im Brechthaus wurde gerade eine Wohnung renoviert – wahrlich rechtzeitig für das Residenzprogramm «Künstler auf der Flucht».
Theater heute 4 2023
Rubrik: Magazin, Seite 67
von Silvia Stammen
Ist das nicht Frau Klemm? Wilhelmine Klemm, vermutlich die fernsehprominenteste Münsteranerin zurzeit – das ist jene etwas angeschrägte Staatsanwältin, die im WDR-«Tatort» aus der Universitäts- und Domstadt seit mittlerweile zwei Jahrzehnten Kripo-Fahnder Thiel und Gerichtsmediziner Börne mehr oder weniger wohlwollend begleitet und nebenbei gelegentlich auch die eigene Zigaretten-Sucht...
Das 1995 im Henschelverlag erschienene Theaterlexikon der DDR würdigt den am 14. Februar dieses Jahres verstorbenen Friedo Solter als überaus vitalen, sinnlich, gestisch und sprecherisch wirkungsvollen Schauspieler und preist seine Regiearbeiten als maßstabsetzend an, «weil er auf lange Zeit einen gültigen Beitrag zur Rezeption des klassischen Erbes geleistet» und viele alte Stücke für...
In dem schönen Ort Maria Blut
werden alle Schmerzen wieder gut,
bringst der Gottesmutter nur aus Wachs die Hand
und dann brauchst kein Medizin und kein Verband,
Medizin und Verband viel Geld dir kosten tät,
sie aber machts für ein Gebet.
FIGUREN
(Besetzung der Uraufführung der Bühnenfassung im Wiener Akademietheater)
Stimme der Erzählerin (Stefanie Dvorak)
Doktor Lohmann (Philipp Hauß)
...