Familienszenen
Das Persönliche aufschreiben, um es zu etwas Allgemeinem zu machen: «... dass meine Existenz im Kopf und Leben der anderen aufgeht.» So erklärt Annie Ernaux in «Das Ereignis», warum sie sich 1999 daran machte, ihre Abtreibung als junge Frau knapp 40 Jahre zuvor schreibend zu rekonstruieren. 1963 war eine Schwangerschaftsunterbrechung in Frankreich ein Verbrechen; Ärzt:innen, die es trotzdem wagten, riskierten Kriminalisierung und lebenslanges Berufsverbot, die betroffenen Frauen, die es unter entwürdigenden Umständen riskierten, wagten ihr Leben.
Blutvergiftungen von unzureichend sterilisierten Geräten oder Blutungen, die in schmuddeligen Hinterzimmern nicht rechtzeitig gestillt werden konnten, waren an der Tagesordnung. Ernaux hat damals den Eingriff, den eine undurchsichtige Krankenschwester für viel Geld in ihrer ärmlichen Wohnung durchgeführt hat, nur knapp überlebt.
Ernauxs Text ist Bericht und Analyse zugleich. Die 40 Jahre ältere Frau weiß die Ereignisse einzuordnen: die Ängste der Sozialaufsteigerin aus dem Arbeitermilieu, die als Erste in der Familie studieren darf; die als Herablassung kaschierte Feigheit der Ärzte; der Klassismus der wohlhabenderen Kommilitoninnen; die ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Theater heute? Loggen Sie sich hier ein
- Alle Theater-heute-Artikel online lesen
- Zugang zur Theater-heute-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Theater heute
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Theater heute 4 2023
Rubrik: Aufführungen, Seite 12
von Franz Wille
Man könne doch das Ledersofa ins andere Zimmer vor die hellgrüne Wand tragen – das sähe bestimmt toll aus. Aenne Schwarz ist vorbereitet auf den Besuch. Zuerst trägt sie einen rot-lila-gemusterten Pullover zur weiten, blauen, fein gestreiften Hose und setzt sich damit auf das verschobene Sofa vor der grünen Wand. Dann kramt sie – an einem sonnigen, aber nicht sehr...
Er ist quasi der Täter der Herzen in der an Femiziden nicht armen Dramengeschichte: Georg Büchners Woyzeck. Wir lernen ihn als Opfer der (Klassen-)Gesellschaft kennen und, wenn auch widerwillig, verstehen. Er ist und bleibt in den meisten Inszenierungen die Identifikationsfigur. Seine Verlobte Marie, die er ermordet, bekommt gerade mal etwas Mitleid. Woyzeck – und...
Robert Musils knapper Roman «Die Wirrungen des Zöglings Törleß» von 1906, sein einziger literarischer Erfolg zu Lebzeiten, landet derzeit des Öfteren auf deutschen Bühnen. Offenbar ist die dargestellte geistig-seelische Entwicklung des sensiblen Schülers Törleß in einem Elite-Internat fern der Stadt nach wie vor interessant, wird Törleß dort doch mit den...