Schuld und Heldentum
Oben hockt Tell mit seiner Armbrust in der golden leuchtenden Steilwand, von der herab er Gessler erschossen hat. Unten kriecht ein blutbeschmiertes Volk hervor und skandiert: «Tell, der Schütze und Befreier.» Dieser Tell ist kein Held, sondern ein von dem Bewusstsein seiner Schuld für einen Mord aus dem Hinterhalt zerfressener Einzelgänger.
Eine Inszenierung von Schillers «Wilhelm Tell» stellt immer wieder die Frage «Wo stehen wir jetzt?».
Ob es 1919 der Aufbruch in die Republik war oder 1932 die Warnung vor den Nationalsozialisten oder 1949 die Betonung der Einzelverantwortung des Individuums, im Kalten Krieg der Aufruf zum Widerstand gegen die Besatzer im jeweils anderen Teil Deutschlands, 1965 die Kritik am Nationalsozialismus der Väter oder 1989 der Fall der Mauer, immer bot das Stück sich an, um im Theater Bezüge zur aktuellen politischen Situation herzustellen. Roger Vontobels Antwort heute ist: Wir stehen in der Mitte zwischen Freiheitskampf und Schuldbewusstsein.
Die Düsseldorfer Inszenierung versucht den alten Schulschinken für die Gegenwart genießbar zu machen, ohne sich polemisch auf die übermächtige Rezeptionsgeschichte zu beziehen. Dazu sind nur ein paar kleine ...
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Theater heute 4 2023
Rubrik: Chronik, Seite 57
von Gerhard Preußer
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Warum nicht einmal etwas leicht machen? Wo ohnehin alles schon schwer genug ist. Ausgerechnet die Münchner Kammerspiele, die sich sonst gern aller kursierender Probleme annehmen, verheißen das, indem sie das Urdrama eines unauflöslichen Konflikts in sogenannte «Leichte Sprache» übertragen lassen, von einer Übersetzerin, die, welch ein Omen, auch noch den schönen...