Eklatante Stadt/Land-Spaltung!
Theater heute Herr Tschirner, haben Sie die Übergriffe auf Politiker der SPD und Grünen in Dresden Anfang Mai überrascht?
Christian Tschirner Nein, nicht wirklich. Die Atmosphäre ist sehr aufgeladen.
TH Eine aufgeladene Atmosphäre muss ja nicht dazu führen, dass man jemanden zusammenschlägt. Man kann sich auch anders streiten.
Tschirner Natürlich.
Aber die verbalen Ausein - andersetzungen werden ja schon sehr eskaliert geführt, da ist von Kulturkämpfen die Rede, sogar vom Kampf ums Überleben. Der Schritt zu physischer Gewalt ist nicht mehr so groß. Und physische Gewalt gibt es schon länger: gegen Klimaschützer, gegen Menschen, die als nichtdeutsch gelesen werden, gegen queere Menschen, Frauen. Auch Drohungen und Gewalt gegen Lokalpolitiker sind nicht neu. Die Lage wird von vielen Menschen als so dramatisch wahrgenommen, dass sie glauben, sich mit allen Mitteln wehren zu müssen. Und es kann ja tatsächlich nicht so weitergehen, wenn man an die Klimakatastrophe denkt. Da haben ja auch wir, die wir uns als demokratische Mitte verstehen, nicht wirklich eine Antwort.
TH Dann sollte man aber keine Grünen-Politiker zusammenschlagen. Und ist die Klimakatastrophe aus Sicht der Rechten nicht eine Erfindung der Lügenpresse?
Tschirner So einfach ist es nicht, wenn man sich rechte Chats anschaut. Da ist ein konkretes Gefühl der Bedrohung präsent. Nur die Antworten sind eben ganz andere. Viel passiert ohnehin nicht rational. Da schreiben sich Traumata fort aus 40 Jahren Transformationsgeschichte in Ostdeutschland. Erfahrungen, die man vielleicht gar nicht selbst gemacht hat, aber die Eltern oder Großeltern. Eine Gesellschaft, die erlebt hat, wie Lebensnormalität weggebrochen ist und entwertet wurde, und jetzt, wo man sich etwas Neues aufgebaut hat, kommt die Ansage: Ihr müsst euch jetzt wieder vollkommen ändern! Das führt in der Summe bei vielen zur Reaktion: Nein, wir halten fest, was wir haben. Diese Art von Besitzstandswahrung wird nicht nur von der extremen Rechten propagiert, sondern reicht leider bis weit in die Mitte hinein.
TH Das Festival Osten spielt im Herz der Transformationserfahrung, in diesem Jahr mit dem Standort Wolfen.
Tschirner Wolfen, das ist Industriegeschichte wie im Brennglas: 1909 hat sich die Firma Agfa dort angesiedelt, damals ein Dorf mit 400 Einwohnern. Daraus entstand innerhalb einer Generation eine Stadt mit 40.000 Einwohnern, ein kompletter neuer Stadtteil mit Kultur- und Forschungszentren. Nach der Wende begann der Rückbau, der bis heute anhält. Auch kul -turell ist dort, wie fast überall im Osten, vieles kaputtgegangen. Wolfen hat nicht einmal mehr die Hälfte der Einwohner und schrumpft immer noch. Drumherum eine ganz merkwür -dige Landschaft mit High-Tech-Industriepark und Naturschutzflächen. Man kann das gar nicht mehr als Stadt oder Land beschreiben, mehr ein postindustrielles Dazwischen. Und dort leben sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Transformationserfahrungen, sehr schlechte, aber auch sehr gute. Eine spannende Mischung.
TH Ist die Bevölkerung beim Festival Osten Publikum oder Akteur?
Tschirner Wir sind ein stark partizipatives Festival, sozusagen in der Tradition des Bitterfelder Wegs. Die allermeisten Projekte beziehen die Menschen vor Ort ein. Unsere Partner reichen vom Malverein, dem Amateurtheater über das Frauenhaus, dem Bauhaus Dessau bis zum Theater in Magdeburg. Kann ich gar nicht alle aufzählen. Es gibt Leute vor Ort, die uns nicht so mögen, aber auch viele andere, die sehr froh über uns sind und sich freuen, dass etwas Neues entsteht.
TH Wie viel kann Kunst und Theater dort ausrichten?
Tschirner Wenn man wirklich mit den Leuten redet, merkt man: sehr viel! Früher sind ja auch die Berliner Theater ins Umland getourt. In den 1990er Jahren habe ich das noch erlebt. Solche Verbindungen wieder herzustellen, ist wichtig. Auch weil es im Grunde sehr einfach ist, mit Kultur, Theater, Musik Verbindungen aufzubau -en. Auch zu Leuten, die da zunächst gar nicht affin scheinen. Macht viel Spaß und vor allem: Hoffnung.
TH Nach einem halben Leben im deutschen Stadttheater eine ganz neue Erfahrung?
Tschirner Ja, wünsche ich allen. Bei den Stadtund Staatstheatern muss man natürlich unterscheiden. Es gibt Häuser, die sind mit dieser Problemlage täglich konfrontiert und auch sehr aktiv. Aber wenn man von der Berliner Schaubühne oder dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg kommt ...
TH ... an beiden Theatern waren Sie Dramaturg ...
Tschirner ... ist das eine andere Welt. Und es wäre sehr schön, wenn die Künstler:innen dort wahrnehmen, dass es außerhalb der Metropolen noch Leben gibt. Die Stadt/Land-Spaltung ist eklatant! Nach meiner Beobachtung sind es gar nicht unbedingt die materiell schlechter Gestellten, die AfD wählen, im Gegenteil: Es ist oft eine gut situierte Mitte außerhalb der Metropolen. Aber sie fühlen sich dennoch abgehängt oder nicht abgeholt, weil sie an Diskursen nicht mehr teilnehmen können und dann auch gar nicht mehr verstehen, was da los ist in Berlin oder Dresden. Obwohl ich selbst aus der ostdeutschen Provinz komme, hatte ich damit in den letzten 30 Jahren nicht viel zu tun. Aber jetzt plötzlich verstehe ich: Ja klar, man muss reden, und auch mit Kunst und Theater kann man da sehr viel bewegen!
Das Gespräch führten Eva Behrendt und Franz Wille

Theater heute Juni 2024
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Eva Behrendt und Franz Wille mit Christian Tschirner
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