Under Construction

Wer heute die Leitung eines Stadttheaters übernimmt, muss sich andere Fragen stellen als noch vor wenigen Jahren. Ein Gespräch über Strukturen und Inhalte am Deutschen Theater Berlin und dem Schauspiel Essen mit Selen Kara, Iris Laufenberg, Daniel Richter und Christina Zintl

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Theater heute In den letzten Jahren ist das Stadttheater als Institution stark in die Kritik, auch die Selbstkritik geraten. Es gab Vorwürfe des Machtmissbrauchs, es gab viel Kritik an Arbeitsbedingungen, an hierarchischen Strukturen, am Intendant:innen-Leitungsmodell überhaupt, zuletzt auch an der Praxis der Nichtverlängerung von künstlerischen Verträgen. Darüber wollen wir in einer ersten Runde sprechen. Alles beginnt allerdings in der Regel mit einer Findungskommission, die ein:e Intendant:in auswählt.

Nun gibt es auch Forderungen, dass Ensembles und Bühnen selbst bestimmen, wer die neue Leitung übernimmt. Wie sind da Ihre Erfahrungen?
Iris Laufenberg Es ist wirklich kompliziert. Es kann in einem künstlerischen Betrieb nicht darum gehen, alles beim Alten zu lassen und nur eine neue Leitung zu engagieren. Das gibt in einem Stadttheater keine neuen Impulse, und die Kunst braucht Wechsel. Aber sicher hilft, wenn es mehr Beteiligung aus dem Ensemble bei der Auswahl neuer Leitungen gibt, weil so mehrere Perspektiven einfließen als in rein politischen oder mit Intendant:innen besetzten Kommissionen. Insofern halte ich das für unbedingt erstrebenswert.

TH Wie ist die Entscheidung am Deutschen Theater konkret abgelaufen?
Laufenberg Ich weiß nicht, wer noch in der engeren Wahl stand. Der erste Kontakt kam aus dem Büro des damaligen Kultursenators Klaus Lederer, dann gab es verschiedene Treffen und ausgearbeitete Konzepte; am Ende wurde mir das Angebot gemacht.

TH Also in diesem Fall keine Findungskommission, sondern der zuständige Senator hat direkt verhandelt.
Laufenberg In diesem Fall ja; es wird von Fall zu Fall unterschiedlich gehandhabt.

TH Der nächste Schritt für eine neue Leitung ist die Frage: Wer bleibt, wer geht? Welche Schauspieler:innen und künstlerische Mitarbeiter:innen bekommen ihre Verträge verlängert oder eben nicht verlängert? 
Laufenberg Es gibt da klare gesetzliche Regelungen. Wenn ich beim Intendanzwechsel keine Nichtverlängerungen ausspreche, dann kann ich das später nur unter sehr erschwerten Bedingungen. Das muss man bei all den damit verbundenen Diskussionen bedenken. Nun wollte ich das Ensemble aus mindestens 36 Schauspieler:innen neu zusammenstellen aus DT-Spieler:innen, aus Künstler:innen, die meine Biografie begleitet haben, und Anfänger:innen. Hier liegen ja auch die Chancen für Absolvent:innen der Schauspielschulen. Man stelle sich vor, alle Ensembles blieben unkündbar. Dann müsste man auch einen großen Teil der Ausbildungsstätten schließen.

TH Und wie ist es konkret abgelaufen?
Laufenberg Ich habe viele Vorstellungen am DT gesehen, an die 50 Stunden Gespräche geführt, und dann – zusammen mit der Dramaturgie – Entscheidungen getroffen. Wir haben immer wieder diskutiert, was wir an diesem Theater machen wollen, und wen wir dafür wollen und suchen. Man muss ja auch für sich die Kriterien immer wieder schärfen. Wir sind hunderte Bewerbungen durchgegangen, haben Vorsprechen veranstaltet. Das ist mit vielen Emotionen verbunden, es gibt herbe Enttäuschungen, aber ganz ohne diese wird es nicht gehen.

TH Die Situation für Schauspieler:innen, die nicht verlängert werden, hat sich in den letzten 25 Jahren deutlich verschärft. Gab es Anfang der Nuller Jahre noch ca. 3000 Ensemblekräfte im deutschen Theater, sind es jetzt nur noch ca. 2000. Also rein statistisch ist die Chance auf ein Neuengagement um ein Drittel gesunken. Und die Schauspielschulen sind in der Zeit auch nicht weniger geworden. Die Konkurrenz wächst jedes Jahr nach.
Selen Kara Ich finde es wichtig, über diese Dinge zu sprechen, aber auch sehr heikel. Es gibt ein Narrativ, das sich gut instrumentalisieren lässt, wonach der/die Neue kommt und ungerechterweise alle rausschmeißt. So ist es nicht immer. Christina und ich haben beispielsweise von Anfang an gesagt, dass wir das Ensemble diversifizieren wollen und deshalb nicht alle übernehmen werden, sondern in einen Prozess gehen, in dem wir uns alle Vorstellungen ansehen, alle kennenlernen, in dem wir auch uns vorstellen. Wir haben mit jeder/m Einzelnen ein individuelles Gespräch geführt. Nun wechselt der bisherige Intendant Christian Tombeil nicht an ein anderes Haus, weshalb es auch keine Chancen gibt, mit ihm weiter zu ziehen.
Christina Zintl Letztlich haben wir einen Kompromiss gefunden, denn um zu erzählen, was wir auf der Bühne erzählen wollen, brauchen wir auch neue Perspektiven. Jetzt bleiben etwa 60 Prozent des alten Ensembles, und mit allen, die nicht bleiben, sind wir in Kontakt und vermitteln auch Vorsprechen an anderen Häusern.
Kara Wir hatten aber auch keine Regel, wie viele wir übernehmen werden, sondern sind offen in den Austausch gegangen. Wir haben auch soziale Aspekte berücksichtigt, die persönlichen Lebenssituationen, aber natürlich gibt es immer unterschiedliche Bewertungen. Es werden jetzt von den aktuell 16 Ensemblestellen – ein Kollege ist in Rente gegangen – neun Schauspieler:innen von uns übernommen, und neun kommen dazu. Darauf freuen wir uns.
Zintl Es gab im bisherigen Ensemble ein großes Geschlechterungleichgewicht, gegen das wir steuern wollten. Überhaupt die Frage, wie bildet sich Gesellschaft im Ensemble ab? Das war uns wichtig. Was uns aufgefallen ist: Je transparenter man so einen Übergang gestaltet, desto mehr Angriffsfläche bietet man gleichzeitig. Es wird ja gerade eine umfangreiche Auseinandersetzung zur Intendanzfindung geführt. Das ist sehr produktiv, und ich fände es genauso wünschenswert, auch den Dialog zwischen Kulturpolitik und Theaterschaffenden zur Gestaltung von Intendanz-Übergängen zu intensivieren.

TH Das wäre auch ein Argument für eine besser ausgestattete Freie Szene, in der dann nicht verlängerte Künstler:innen temporär Arbeitsmöglichkeiten finden können.
Laufenberg Wobei interessant ist, dass sich bisher Findungskommissionen gerne für den männlichen, möglichst schillernden regieführenden Intendanten entschieden haben, der mit großem Machtbewusstsein agiert.

TH Hier sitzen die Gegenbeispiele! Auch in anderer Hinsicht: Christina Zintl und Selen Kara sind ganz dezidiert eine Doppelspitze. War das ein Thema im Auswahlprozess?
Zintl Es gab in Essen eine Findungskommission, die aus Aufsichtsrat und Haus bestand. Beteiligt waren die Aufsichtsratsvorsitzende, der Kulturdezernent, die Geschäftsführerin – allerdings ohne Stimme –, der Betriebsratsvorsitzende. Es gab dann ein dreistufiges Verfahren mit Konzepteinreichung, anschließendem Gespräch, einem möglichen Spielplan. Da mussten wir einige Fragen beantworten, wie wir mit dem bestehenden Ensemble umgehen wollen.
Kara Der Stadt war durchaus ein Wechsel wichtig; wir wollten unseren Teamgedanken platzieren. Am Ende ist man dann mit einem Vertragsangebot auf uns zugekommen.

TH War Ihre Idee einer Doppelspitze Thema in den Gesprächen?
Kara Das war von Anfang an unser Angebot, und es wurde auch nicht hinterfragt.
Daniel Richter Gibt es eine Aufteilung von Zuständigkeiten?
Kara Wir sind gleichberechtigt, aber es gibt mit unseren unterschiedlichen Perspektiven – Christina als Dramaturgin, ich als Regisseurin – eine gewisse Aufteilung, die wir natürlich auch schriftlich fixiert haben. Aber in der Praxis wird sich das noch weiterentwickeln: Wie ist die Aufteilung, wenn ich probe; wie ist sie, wenn Christina eine Produktion betreut? Noch macht es Spaß, alles zusammen zu machen.
Zintl Wir haben unterschiedliche Bereiche, in denen die jeweilige im Konfliktfall das letzte Wort hätte. Das war schnell Gesprächsthema im Findungsprozess: Was passiert im Worst Case, falls man sich nicht einigen kann? Und wer ist verantwortlich am Ende?

TH Und, wer ist verantwortlich?
Zintl und Kara Beide! Nicht, dass wir immer einer Meinung sind, aber bisher bekommen wir das ganz gut hin.

Kara Bei Meinungsverschiedenheiten gehen wir alle Argumente sehr genau durch; es ist nicht so, dass jemand einfach ein Vetorecht hat. Manchmal dauert es dann eben zwei Tage, bis eine Entscheidung gefallen ist.
Richter Vielstimmigkeit ist ja immer gut, aber die Frage ist, wie man in einer überschaubaren Zeit Entscheidungen findet. Nach meiner Erfahrung wird es immer schwieriger, je größer die Kollektive werden.
Zintl Wichtig sind auch die verschiedenen Arbeitsebenen. Also wenn ich eine Produktion als Dramaturgin begleite, dann bin ich für diese Produktion nicht die Intendantin, sondern das ist dann in dem Fall Selen.

TH War in Berlin, wo man in den letzten Jahren durchaus schwierige Situationen mit der Amtsführung von Intendant:innen hatte, der Leitungsstil ein Thema? Wurde ein Code of Conduct vereinbart?
Laufenberg Ja, es gibt den von Ulrich Khuon 2019 im Deutschen Bühnenverein vereinbarten, der auch fürs DT gilt. Zu meiner Arbeit gehört über viele Jahre schon, teamorientiert zu denken, Kommunikation zu hinterfragen und zu organisieren, mir bei Bedarf auch Hilfe zu holen. Denn nichts ist so zeitaufwendig und sensibel wie Kommunikation, und die Abläufe müssen immer gewährleistet sein.

TH Und wie funktioniert das in einem riesigen Betrieb wie dem Deutschen Theater?
Laufenberg Es ist im Wesentlichen nach Expertisen verteilt, und ich stelle fest, dass es für viele am Haus neu ist, wenn ich sage: Aber da muss ich doch jetzt gar nicht dabei sein. Ihr kennt meine Haltung, entscheidet doch einfach.

TH Heißt das dann: Entscheidet in meinem Sinn? 
Laufenberg Natürlich nicht, es geht ja oft um ganz banale Dinge. Aber jetzt fallen mir gerade nur so heikle Sachen ein.
Richter Ich kann dir sagen, was wir gestern ohne dich entschieden haben! (Gelächter) Aber ich stelle auch fest, es gibt Mitarbeiter:innen, die nicht damit umgehen können, wenn sie Freiheit geschenkt bekommen. Weil wir alle so sozialisiert sind, dass von der Leitung entschieden wird. Und Freiheit heißt in dem Fall, Verantwortung zu übernehmen. Wenn Iris dann sagt, entscheidet ohne mich, dann ist erstmal Stille im Raum, weil sich niemand traut, ohne Rückversicherung eine Entscheidung zu treffen. Wir sind da alle anders programmiert und müssen erst umlernen. 
Laufenberg Freiheit braucht auch Struktur. Bei der vorletzten Dramaturgiesitzung war ich genervt, weil das Gespräch um Dinge mäanderte, die eigentlich schon besprochen waren. Und bei der nächsten Sitzung war ich nicht dabei, habe aber ein tolles Papier bekommen, was in ihr alles abgearbeitet wurde. Da war ich total happy.
Richter Wenn man Teamarbeit ernst meint, muss man sehr genau klären, wer wofür zuständig ist, wo die Bereiche von Eigenverantwortung liegen. Wir merken aber gerade auch – es kommen jetzt beim Neustart viele unterschiedliche Menschen zum ersten Mal zusammen –, dass man dauernd nachjustieren muss.

TH Der Engpass ist bei einem Theaterbetrieb immer die Zeit. Sowohl was die Entscheidungsprozesse angeht, als auch die Räume für Freizeit, Privates, Familie. Das ist für Ensemble und Mitarbeiter:innen ein Problem, aber auch für die Leitungen. Alle drei Intendant:innen sind Mütter, wie machen Sie das? Karin Beier hat einmal eingeführt, dass sie ab vier Uhr ein paar Stunden unerreichbar ist.
Laufenberg Das würde man einen Mann nicht fragen!
Zintl Es ist ja viel von Care-Verantwortung in Kulturbetrieben die Rede, was aber immer an Frauen adressiert wird. Wir hatten gerade kürzlich eine Veranstaltung dazu, und ein männlicher Mitarbeiter wollte teilnehmen, was aber vom Angebot her gar nicht so vorgesehen war. Für Essen gibt es aber schon eine sehr gute Zeitregelung für die Mitarbeiter:innen. Wir haben sieben Stunden Arbeitszeit am Tag, die sehr streng überwacht wird, anderthalb freie Tage am Stück und viele Betriebsvereinbarungen. Laufenberg Ich glaube, die Frage zielte eher auf unsere künstlerische Selbstausbeutung.
Kara Das finde ich ein wirkliches Problem. Es gibt gute Regelungen für Festangestellte, aber für Freiberuflerinnen, die immer dazukommen, und auch für die Leitungsebene greift das nicht. Die Arbeit muss ja gemacht werden. Natürlich arbeiten wir gerade alle 200 Prozent und nicht nur 100 Prozent, auch wenn wir zu zweit sind. Das bringt der Neustart mit sich. Wichtig sind wirklich die Kommunikationswege, muss es Whats -App sein, wo sind die Infos gesammelt? Das ist ein großer Lernprozess, aber da hilft auch Digitalisierung, damit wir nicht alle in jeder Sitzung sein müssen. Ich bin gerade in Proben, habe vor, zwischen und nach der Probe Sitzungen, es geht von 6 Uhr morgens bis 12 Uhr nachts. Das hält kein Mensch lange aus. Und dann mit Kindern. Freunde oder Hobbys habe ich sowieso keine mehr. (Lachen)

TH Kommt jetzt gerade durch diese notwendige Metakommunikation über Transformationsprozesse nicht noch mehr an Belastung dazu?
Kara Unser Betriebsdirektor sagte den tollen Satz: «Man muss den Wandel disponieren.» Wir werden zum Beispiel im Dezember nicht probieren, sondern produzieren vor, so dass wir in der Mitte der Spielzeit wieder ein bisschen herunterfahren können. Dafür ist dann Raum für Workshops oder Zwischenbilanzen. Das hatte auch den Hintergrund, das Thema Workshops zu entdramatisieren. Denn wenn man einen Antirassismus-Workshop ankündigt, denken erstmal alle, oh Gott, was habe ich falsch gemacht. Und ja, wir wollen uns in Essen diverser aufstellen. Das bedeutet konkret, dass Menschen zusammenarbeiten, die vorher nie zusammengearbeitet haben. Es werden Menschen geschminkt, die vorher von der Maske nicht geschminkt wurden und andere Hauttypen haben. Viele Dinge, auf die man sich vorbereiten muss, damit nicht beim ersten Konflikt jemand von außen geholt werden muss.
Laufenberg Gestern fragte mich der Maskenchef, ob er einen Workshop machen könnte, um Haare von People of Color pflegen/frisieren zu lernen. Großartig! Wenn ich das hingegen ansetzen müsste, könnte es Probleme geben. Unser Antirassismus-Workshop in Graz beispielsweise ist sehr schlecht angekommen, weil er als Vorwurf verstanden wurde.

TH All das kostet natürlich auch Zeit. Wie steht es in dem Zusammenhang mit den an vielen Theatern während der letzten Jahre deutlich gestiegenen Premierenzahlen? Gerade Ulrich Khuon hat in seiner Intendanz am Deutschen Theater den Ausstoß deutlich erhöht. Wie hochtourig soll der Betrieb laufen?
Laufenberg Wir haben das Glück, wunderbar laufende Produktionen weiterspielen zu können und zu wollen. Das ist bei einem Intendanzwechsel sonst oft nicht der Fall. Bei einem Neustart muss man anderer -seits auch viel Neues zeigen, aber wir haben uns fest vorgenommen, die Anzahl der Neuproduktionen sukzessive herunterzufahren. Gleichzeitig ist das Deutsche Theater zwar ein großer Betrieb, aber die Schauspieler:innen haben in der Regel auch nur drei Neuinszenierungen in der Spielzeit.
Kara Wir machen 14 Produktionen, davon zwei Übernahmen, die wir mitbringen. Das ist mehr als bisher am Schauspiel Essen, aber wir haben uns gesagt: Wir sind dort nur einmal neu und wollten bewusst mit einem Spektakel aus vier Eröffnungspremieren beginnen. Außerdem müssen wir erst ein Repertoire aufbauen.
Zintl Bei uns ist jedes Ensemblemitglied in je vier neuen Stücken dabei, in einigen Fällen auch nur in drei. Mit weniger Produktionen wollten wir nicht starten, gerade wenn sich das neue Ensemble vorstellt.
Richter Ich finde die Größe des Outputs und die damit zusammenhängende Betriebserschöpfung ein wichtiges Thema. Neuinszenierungen sind durch andere Kunstformen komplexer geworden, wie Video, Choreografie, Komposition. Damit sind auch die Anforderungen der einzelnen Produktionen gewachsen. Es sind viele Überschreibungen oder Stückentwicklungen unter den Neuproduktionen, die zumindest aus Sicht der Dramaturgie eine intensivere Betreuung bedeuten, da sie andere Zeitrhythmen, andere Vorläufe, andere Recherchen, andere Probenphasen erfordern. Ein Dramaturg kann nicht mehr seriös wie früher fünf, sechs Produktionen in der Spielzeit betreuen. Das ist strukturell alles nicht so leicht. Jedes Projekt entwickelt einen anderen Bedarf. Zintl In unserem Spielplan gibt es nur zwei Klassiker, alles andere sind Uraufführungen, Überschreibungen, Entwicklungen.
Kara Gleichzeitig liegen die Abgabetermine, etwa die Bauproben, in einem großen Betrieb aus Oper und Schauspiel wie in Essen immer sehr früh. Bühne und Kostüme sollen fertig geplant sein. Wie kriegt man das zusammen, wenn man noch gar nicht weiß, wie sich das Stück entwickelt, aber in drei Monaten Bauprobe ist?
Zintl Wir haben im Oktober ’23 die Bauprobe für die Spielzeiteröffnung ’24/25! Das hat natürlich mit den Abläufen in einem Fünf-Spartenhaus zu tun

TH Reden wir über Inhalte. Sie haben eingangs auf mehr Diversität verwiesen für Essen.
Kara Wir wollen in Essen Diversität als unsere Normalität begreifen. Also nicht das eine Diversitäts-Projekt in der Kammer, damit das Thema abgedeckt ist, sondern dass Fatma Aydemir, Armin Petras, Sapir Heller oder ich nebeneinander existieren. Tatsächlich haben wir uns dann ein Motto gegeben: Neues Deutsches Theater ...
Zintl... und irgendwann dann noch etwas realistischer «under construction» daruntergemogelt, um zu betonen, dass das nicht von jetzt auf gleich zu haben ist. Es soll dabei nicht darum gehen, Menschen auf ihre Biografie festzulegen, das haben wir alle viele Jahre erlebt. Jetzt ist es an der Zeit, anders anzutreten, einen anderen Austausch zu suchen.

TH Denken Sie den Spielplan mehr von den Künstler:innen und ihren Interessen her oder von den Stoffen, die vorkommen sollen und für die man dann Künstler:innen sucht?
Kara Beides. Wir hatten natürlich einige konzeptionelle Ideen, Stoffe und Themen und haben die Regieteams gefragt, was sie interessiert. Ich kenne das Problem aus eigener Erfahrung: Mein Regiedebüt war ein Stück von Dea Loher, das hat niemanden interessiert. Dann kam der Liederabend «Istanbul», und alle Türen gingen auf. Ich bekomme heute noch Anfragen nach «Istanbul, Teil 2». Danach war ich die ersten Jahre immer die Liederabendfrau. Natürlich waren da auch eigene musikalische Projekte bei, die ich gerne zusammen mit Torsten Kindermann entwickelt und inszeniert habe, wie beispielsweise der erfolgreiche Abend «Mit anderen Augen» in Bochum. Aber manchmal möchte ich auch einen Klassiker inszenieren, Shakespeare oder Kleist. Ich möchte nicht immer in eine Schublade gesteckt werden.
Laufenberg Unsere künstlerischen Teams entwickeln sich und ihre Themen. Beispielsweise Jan-Christoph Gockel mit seinem Afrika-Schwerpunkt, wo er seit elf Jahren Kooperationen pflegt. Diese Arbeiten entwickeln sich weiter in ihrer Ästhetik, in ihren Mitteln, eben weil man bestimmte Themen erzählen will. Ebenso in der Arbeit mit Alexander Eisenach oder Anita Vulesica. Das Gespräch geht immer weiter, und das Vertrauen wächst, immer mehr zu wagen, größer zu denken.
Richter Wir sind über kein Thema oder Motto an den Spielplan herangegangen, sondern haben intensive Dialoge mit den Künstler:innen geführt. Sie kommen mehrheitlich aus einer jüngeren Generation, die anders auf die Welt schaut, die anders politisiert und sozialisiert ist, mit einer großen Lust aufs Erzählerische. Nach einer Phase der Diskursivierung und Akademisierung interessiert sie das Erzählerische und Spielerische wieder stärker in einer großen ästhetischen Bandbreite. Race, Gender und Class sind dabei wichtige Themen, aber nicht unsere Vorgabe. Es entsteht im Dialog.

TH Die Priorität hat mehr das Inhaltliche als das Formale oder Ästhetische.
Laufenberg Absolut. Alles andere würde mich nicht interessieren.
Richter Ich wüsste gar nicht, wie es anders geht. 
Zintl Das reine Beharren auf einer künstlerischen Form oder die Behauptung einer singulären künstlerischen Position, aus der sich dann alles andere ergibt, ist sicher nicht unsere Haltung. Auch wenn man heute mit Regiestudierenden spricht, für wen man ein Projekt erzählt, und die Antwort «nur zehn Leute» lautet, dann wird das Projekt grundsätzlich in Frage gestellt. Das kenne ich von meiner Ausbildung nicht.

TH Die Frage hätte man noch vor zehn Jahren so nicht gestellt.
Zintl Nein – und das ist eine komplette Drehung. Wir betrachten den Spielplan als permanentes Gespräch aller Menschen, die daran beteiligt sind, Publikum wie Künstler:innen.
Richter So würde ich unseren Arbeitsprozess auch beschreiben. Wobei ich eine große Lust jüngerer Regisseur:innen sehe, sich mit dem Kanon auseinanderzusetzen, auch mit Sprache. Und zwar ohne radikale Dekonstruktion, sondern in der Suche nach heutigen Bezügen und Anknüpfungspunkten.

TH Stichwort Publikum. Die Erfahrung zeigt, dass es ein homogenes bürgerliches Theaterpublikum nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gibt. Sondern sich die Menschen im Zuschaueraum aus einer Vielzahl verschiedener Gruppen zusammensetzen. Wie gehen Sie damit um? Versuchen Sie, bestimmte Communities anzusprechen? Versuchen Sie, ein möglichst breites Angebot zu bieten, auf das viele einsteigen können? Wie adressieren Sie das Publikum?
Kara Für mich ist Essen ein Heimspiel. Meine Mutter kommt aus Essen-Katernberg, dem «Problem-Norden», wo niemand ins Theater geht. Ich wohne seit 15 Jahren im Ruhrgebiet, kenne die Gegend, das Publikum und das Nicht-Publikum, und versuche es in unser Gespräch miteinzubeziehen. Wir haben einen Theaterbeirat gegründet, die «critical friends», dezidiert nicht der «Freundeskreis», sondern kritische Freunde ... 
Zintl ... das sind explizit Nicht-Theatergänger:innen, die wir bitten, Fragen an uns zu stellen, zu Proben zu kommen: eine kleine Gruppe von etwas 15 Personen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, die auch als Multiplikator:innen wirken. Abgesehen davon zielen wir eher in die Breite: Gerade nicht einen Abend für diese Community, einen anderen für jene. Eine «Faust»-Überschreibung von Fatma Aydemir soll sich an viele wenden und nicht an ein rein postmigrantisches Publikum. Vor allem denken wir den gesamten Spielplan vom Publikum her. Die erste Frage war eigentlich immer: Für wen?
Laufenberg Auch wir haben das Publikum auf verschiedenen Ebenen im Blick. Es gibt einen Jugendbeirat von DT Jung*, der unglaublich infiziert ist von Theater, dazu einen Lehrerbeirat, einen Freundeskreis, viele Autor:innen, die auch wichtige Multiplikator:innen sind. Wir wollen auch offene Proben anbieten, Gruppen dezidiert einladen. Ohne Feedback des Publikums geht nichts mehr, das holen wir uns ab, wo wir nur können. In Graz haben wir einen Kreis von Testzuschauern aufgebaut, die in die Hauptprobe kommen und dann einen Fragebogen ausfüllen für uns, was sie sehr selbstbewusst tun. Das hat super funktioniert, die haben sich über die Zeit auch selbst geschult. Da stehen richtig gute Beschreibungen des Gesehenen aus Publikumsperspektive drin.
Kara Einladungen sind wichtig! Nachdem ich in Mannheim «Istanbul» zum dritten Mal inszeniert hatte, habe ich den kompletten Reinigungsdienst eingeladen, weil ich gesehen habe, wie sie sich hinten im Zuschauerraum verstecken bei den ganzen Songs, die sie kennen. Dann haben wir sie eingeladen zu einer Sonderprobe nur für sie, ihre Kinder, ihre Freunde. Der Reinigungsdienst bestand zu 90 Prozent aus Menschen aus der Türkei. Seitdem kommen immer noch Leute ins Theater, die sonst den Weg nicht gefunden hätten. Jetzt habe ich auch in Essen wieder den Reinigungsdienst angesprochen.

TH Ein Neustart ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Meistens grooven sich die Häuser erst nach zwei, drei Jahren richtig ein. Wo wollen Sie dann stehen?
Kara Wir erwarten nicht, dass wir in drei Monaten umsetzen, was wir uns vornehmen. Wo wir in drei Jahren stehen werden, kann ich jetzt nicht sagen, weil es auch ein offener Prozess ist. Vielleicht werden wir dann sagen, dass nicht alles richtig war, als wir angefangen haben, aber dass es richtig war, damals diese Entscheidungen getroffen zu haben. Natürlich werden wir sofort bewertet werden: Stimmen die Zuschauerzahlen? Wie funktioniert die Doppelspitze aus zwei jungen Frauen? Kriegen die das hin? Deshalb hoffe ich einfach, dass wir vieles umsetzen können, Spaß dabei haben, gute Kunst machen, viele Menschen ansprechen und uns treu bleiben als Team.
Zintl Wir haben im Grillo Theater, mitten in der Essener Innenstadt, immer die Fußgängerzone, die Kettwiger Straße vor Augen, ein sehr diverser Ort. Wir möchten eine möglichst große Durchlässigkeit schaffen hin zu dieser Stadtgesellschaft, in einem Haus, das auch von seiner Architektur her noch relativ hermetisch ist. 
Laufenberg Ich wünsche mir einen lebendigen Ort, in dem man nicht über Strukturen redet, sondern sie nutzt. Denn sie sind einfach geil! Ein Ort, an dem viele Menschen zusammenkommen können, ins Gespräch kommen, im Haus, im Zuschauerraum, aber auch im Gewusel auf dem Platz davor.
Richter Das Wichtigste ist, dass wir die Menschen erreichen ...
Zintl ... und dass Theater auch ein Fest sein kann und lustvoll gefeiert wird!

SELEN KARA, geb. 1985 in Velbert, inszenierte zuletzt an den Schauspielhäusern in Bochum, Bremen, Nürnberg und Mannheim und leitet ab 2023/24 als Intendantin in Doppelspitze mit Christina Zintl das Schauspiel Essen.

CHRISTINA ZINTL, geb. 1980 in Bonn, war Dramaturgin an verschiedenen Theatern sowie beim Berliner Theatertreffen und leitet ab 2023/24 als Intendantin in Doppelspitze mit Selen Kara das Schauspiel Essen.

DANIEL RICHTER, geb. 1977 in Köln, war Dramaturg beim Berliner Theatertreffen, für verschiedene Bühnen und Festivals. Ab 2023/24 ist er Dramaturg des Deutschen Theaters Berlin.

IRIS LAUFENBERG, geb. 1966 in Köln, leitete das Berliner Theatertreffen, war Schauspieldirektorin in Bern und Intendantin am Schauspielhaus Graz. Ab 2023/24 ist sie Intendantin des Deutschen Theaters Berlin.


Theater heute Jahrbuch 2023
Rubrik: Was kommt?, Seite 76
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