Schön war die Zeit
Früher bedeckten mich meine Triggerpunkte wie eine zweite Haut. Man hätte sie benutzen können, um einen hochauflösenden Wut-Avatar von mir zu erstellen und auf den Cyberspace loszulassen. Virtuelle Verwüstung wäre garantiert gewesen. Mit kleinen Abstrichen galt das auch im richtigen Leben, und wenn ich richtiges Leben sage, meine ich natürlich die Kunst.
Im Theater setzten sich die Leute von mir weg, weil sie mein ärgerliches Gemurmel während der Vorstellungen nicht mehr ertragen konnten, wenn zum Beispiel Ulrich stammelnd den Getriebenen gab oder Lars sich im Spiegellabyrinth seines Neunzigerjahre -Humors vervielfältigte oder August aus seinen eigenen Angeberschachtelsätzen nicht mehr herausfand. Meine Wut sprang verlässlich an, wenn nicht mehr ganz frische Mackertypen öffentlich Momente erlebten, in denen sie sich unglaublich genial fanden. Denn dann er -kannte ich mich selbst in ihnen und hasste sie dafür.
Heute denke ich neidisch über mein früheres Ich: Deine Trigger will ich haben! Wo damals Wut war, ist heute Hilflosigkeit. Neulich sagte sehr unvermittelt ein lieb gewonnener Arbeitskollege zu mir: «German newspapers kill.» Als leidenschaftlicher Zeitungsleser wunderte ich ...
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Theater heute Jahrbuch 2024
Rubrik: Ärgernisse, Seite 92
von Veit Sprenger
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Der Kapitalismus ist ein System von Abhängigkeiten, die von innen nach außen, von außen nach innen, von oben nach unten und von unten nach oben gehen. Alles ist abhängig, alles ist gefesselt. «Kapitalismus ist ein Zustand der Welt und der Seele», heißt es in dem allzu bekannten Zitat von Franz Kafka. Selma Kay Matter zeigt dieses System als ein kompliziert...
Sie ist schon da, als sich die Türen des Zuschauerraums öffnen. Sie streift, während das Publikum jetzt langsam hereinkommt, an der Rückwand des leeren Bühnenhauses entlang, sie streift hin und her, kaum zu erkennen im Halbdunkel, scheinbar ruhelos – und doch hochkonzentriert. An den hohen Wänden verlaufene schwarz-graue Tusche, irgendwo auf der Bühne ein Haufen...
