Im Bekenntnisdrang
Klingt eigentlich sehr vernünftig: «Ab sofort», so kündigt der Berliner Kultursenator Joe Chialo im strengen Verordnungstonfall an, werden «Zuwendungen der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt mit einer Antidiskriminierungsklausel versehen». Sie soll sicherstellen, dass mit öffentlichen Geldern keine «rassistischen, antisemitischen, queerfeindlichen oder anderweitig ausgrenzenden Ausdrucksweisen gefördert werden». Bei der entsprechenden Modifizierung der Förderrichtlinien handele es sich um eine «Selbstverpflichtung».
Kurz: Wer eine Förderung aus Berlin will, muss unterschreiben. Ganz abgesehen von den üblichen Interpretationsproblemen – ab wann gilt eine künstlerische Äußerung als diskriminierend? –, liegt der Teufel in einem besonderen Detail. Denn im Fall Antisemitismus gelte die «Antisemitis -mus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung». Das Problem liegt vor allem in der «Erweiterung durch die Bundesregierung», die genau genommen eine eingeschränkte Erweiterung ist. Die IHRA-Formel lautet unerweitert: «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.» So weit, so allgemein. Die «Erweiterung» allerdings schließt auch Kritik an der israelischen Regierung in ihren Antisemitismus-Begriff mit ein: «Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.» Noch problematischer wird der Fall, weil der Bundestag und nun auch Joe Chialo nicht die ganze Erweiterung der IHRA aufgenommen haben. Denn dort heißt es nämlich im nächsten Satz: «Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.»
Dieser – vom Bundestag unbegreiflicherweise gestrichene Satz – setzt das Völkerrecht auch für Israel wieder unzweideutig in Kraft. Damit wäre Kritik an israelischer Regierungspolitik, die gegen elementare Menschenrechte oder die Gewaltenteilung verstößt, wieder vom Antisemitismus-Verdacht befreit. Die Tolerierung von Gewalt rechter Siedler gegen Paläs -tinenser im Westjordanland, die Versuche der rechtsextremen Netanjahu-Regierung, den Obersten Gerichtshof auszuschalten oder sogar Netanjahus durchsichtiger Versuch, sich selbst gegen Korruptionsvorwürfe zu immunisieren – all das ließe sich mit der vollständigen Erweiterung zweifelsfrei kritisieren, ohne dass jemand befürchten muss, als antisemitisch zu gelten. Nicht zuletzt dürfte man die Frage aufwerfen, warum die angeblich ängstlichen Bemühungen des israelischen Militärs, zivile Opfer in Gaza zu vermeiden, zu bisher über 20.000 Toten geführt haben?
Aber nicht unter Joe Chialo. Die Proteste lassen nicht lange auf sich warten. In einem of -fenen Brief befürchten über 4000 «Berliner Kulturproduzent*innen aller Sparten», «dass Bekenntnisklauseln, wie sie hier vorgelegt werden, einzig dazu dienen, eine verwaltungsrechtliche Grundlage für Ausladungen und Absagen von Veranstaltungen mit israel-kritischen Kulturarbeiter*innen zu schaffen». Das betreffe auch «jüdische Kulturschaffende in Deutschland, die sich mit Palästina solidarisieren, sich für Dialog und Friedenslösungen einsetzen, und die hier von nicht-jüdischen Deutschen mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert werden». Auch die Leiterin des Wissenschaftskollegs, Barbara Stollberg-Rilinger, und Hartmut Dorgerloh, Generalintendant der Stiftung Humboldt-Forum, äußern Kritik. Sie sorgen sich um Absagen von Netanjahu-kritischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen.
Inzwischen rudert die Berliner Senatsverwaltung vorsichtig zurück. Sanktionen seien nicht das Ziel, man wolle keine Gesinnungsprüfungen durchführen, und Rückforderung von Fördermitteln, falls jemand gegen sein Bekenntnis verstößt, solle es auch nicht geben. Aber wozu dann das Bekenntnis? Nur ein Verwaltungsfeigenblatt? Wenn irgendeine se -natsgeförderte Veranstaltung antisemitischen Skandal machen sollte, könnte die Verwaltung immerhin behaupten, dass gegen ihre Klausel verstoßen wurde? Chialos Antidiskriminierungsakt – ein Alibikonstrukt? Man soll nichts unterstellen. Aber nur für den Fall: Dann hätte sich der Berliner Kultursenator endgültig als Papiertiger entlarvt.
Nachtrag: Vier Wochen nach seinem Erlass hat Joe Chialo seine Antidiskriminierungsklausel wieder zurückgezogen. Am 22. Januar erklärte die Berliner Senatskulturverwaltung: «Aufgrund von juristischen Bedenken, dass die Antidiskriminierungsklausel in dieser Form nicht rechtssicher sei, wird diese ab sofort keine Anwendung in Zuwendungsbescheiden mehr finden.» Das Ziel einer diskriminierungsfreien Kultur bleibe davon aber unberührt. Man wolle den Diskurs mit Institutionen und Kulturschaffenden dazu in den nächsten Monaten intensivieren. Nach wirklicher Einsicht klingt das nicht, eher nach bemühter Gesichtswahrung. Denn ohne klare Worte, wo für ihn die Grenze zwischen nicht hinnehmbarem Antisemitismus und möglicherweise zu akzeptierender Israelkritik verläuft, wird die erwünschte diskriminierungsfreie Kultur nicht zu bestimmen sein. Auch auf die Position von Kulturstaatsministerin Claudia Roth dazu darf man gespannt sein.
Theater heute Februar 2024
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Franz Wille
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