Einhorn im Wald
In russischen Lettern ziert Miftis T-Shirt das Wort «Nadryw», Kennern von Frank Castorfs «Karamasow»-Inszenierung wohlbekannt als unübersetzbares Schlüsselwort für einen Zustand im Grellgraubereich zwischen Schmerzextase und Überspanntheit.
Man muss Helene Hegemann keinen erneuten Plagiatsvorwurf daraus drehen, dass sie sich diesen Begriff aneignet: Er trifft einfach nur zu gut die Lage der 15-jährigen Protagonistin (angemessen angepisst und doch jederzeit lachbereit gespielt von Jasna Fritzi Bauer), die nach dem Tod ihrer Mutter mit zwei älteren Halbgeschwistern in einer Berliner Kreativ-WG zusammenhaust, sich in Koks- und Künstlerkreisen die Nächte um die Ohren haut, ein Affäre mit einer wesentlich älteren Frau hat und von ihrem Vater (Bernhard Schütz) zwar keine «Fürsorge», aber ein paar halbgare Gedanken zu Terrorismus und Karriere über den Abendbrottisch gereicht bekommt.
Natürlich soll diese Mifti kein Opfer sein. Also spannt Hegemann sie mit einer charismatischen Frauengang (Araceli Jover, Mavie Hörbiger und – als Halbschwester – Laura Tonke) zusammen, die mit Drogen, Sex und Durchblickersprüchen einem aggressiven Mädchen-Vitalismus frönen. Surreale Bilder (Einhorn im Wald, «Tot»-Spielende auf der Straße) brechen den glamourösen Bilderstrom, der noch einmal aus Leibeskräften die ach so anarchische Volksbühnenwelt abfeiert, sonst aber so recht noch keine eigene Idee zum Leben entwickeln mag.

Theater heute August/September 2017
Rubrik: Magazin, Seite 70
von Eva Behrendt
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