
Foto: Chris van der Burght
Die Krise einer Epoche
«nicht schlafen» ist wieder vom 30. Mai bis 03. Juni im Theatre La Monnaie in Brüssel zu sehen https://www.lamonnaie.be/en/program/23-nicht-schlafen
Psychopathologie, die den Körpern eingeschrieben wird. Gefühlte Schwäche produziert anmaßende, ihrer selbst nicht sichere Stärke. «nicht schlafen» wurde inspiriert von Philipp Bloms «Der taumelnde Kontinent» sowie der Musik Gustav Mahlers, des spätromantischen Krisen-Diagnostikers aus der Klimazone Sigmund Freuds. In der kulturgeschichtlichen Betrachtung der Belle Epoque vor dem Ersten Weltkrieg zeigt Blom, wie Psychoanalyse, Industrialisierung, Technik und Wissenschaft, Emanzipation und die Künste das Experiment Moderne kreieren.
Deren Provokationen, Skeptizismen und Formauflösungen führen zur Verunsicherung und daraus resultierenden Hybris konservativer Kräfte, die wiederum in Aggression, Männlichkeitsgebaren, Militarismus und Imperialismus umschlagen.
Wir könnten das heutzutage ähnlich bewerten angesichts der planvollen Paranoia des Populismus. Alain Platel und sein spirituelles, empathisches Körpertanztheater aus Gent lässt auch die aktuelle Folgerung zu. Elemente aus acht Mahler-Symphonien werden eingespielt bzw. in Soundscapes zitiert und gemixt. Eine weitere symbolische Setzung sind Berlinde de Bruyckeres Skulpturen. Auf einer Holzpalette liegen vor zerschlissenem Vorhang drei präparierte tote Pferde wie Schlachtopfer auf einem Altar. Sie bezeugen das Ende des «kentaurischen Pakts» (Ulrich Raulff) zwischen Ross und Reiter, Herrn und geknechtetem Tier. Das zermarterte Pferd ist von Picasso («Guernica») bis Spielberg («Gefährten») Symbol des Leidens.
Platel und seine brillante Compagnie entwickeln eine auf die Musik assoziativ reagierende, befreiend ungebundene Szenenfolge. Atemberaubend, wie genau in der nicht linear narrativen Choreografie eines kontrollierten Ausnahmezustands Tanz und Musik korrespondieren. Die Versehrtheit der Kreatur und Abweichung von der Norm gestalten sich in gruppendynamischen Prozessen von extremer Psychomotorik. Der Mensch trägt an der Rolle des Außenseiters. Gewalt erschafft Kriegskörper.
Kuhglocken läuten ein Pastorale-Idyll ein, das bald übergeht in Balgen, Zerren, Krallen, Sich-Verklammern: Mann gegen Mann oder gegen Frau. Sie zerreißen sich gegenseitig die Kleider und ringen sich nieder. Auf die Tortur folgt das wehmütig-schöne Adagietto der 5. Symphonie. Die Gruppe hebt die Hand wie Thomas Manns Tadzio, um ins «Verheißungsvoll-Ungeheure» zu weisen, bevor die gleitenden Bewegungen verkanten, konfrontativ rüde werden, Gesten des Sich-Ergebens andeuten oder den Moment vor dem Erschießungskommando. Leiber zucken im Drill. Im Gegenzug heben Berührungen und Vereinigungen wie auf einer Skizze von Egon Schiele den brutalen Zugriff auf. Das Wien der frühen radikalen Moderne bleibt präsent.
Der verstörende Kontrast aus Friedfertigkeit, Siegesstolz, Glücksharmonie, meditativer Stimmung, psychischer Deformation und dumpfem Drohen mündet in den furiosen Kampfruf von Mahlers Zweiter: Der sich windende Tänzer David Le Borgne wird erlegt und gehäutet. Währenddessen bewahrt die Tonspur den letzten Atem der Natur in einer Partitur der Tiergeräusche. Intensiver lässt sich die Krise einer Epoche und das Bedürfnis nach Erlösung nicht ausdrücken – in diesem (Wahl-)Jahr mehr noch als zum Datum der Uraufführung im September 2016. Erbarmen ist ein zentraler Begriff für Alain Platel. Er scheint durch dieses Passionsspiel hindurch.

Theater heute Mai 2017
Rubrik: Theatertreffen 2017, Seite 12
von Andreas Wilink
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