Berlin: Liederbuch des Monströsen
Ganz zum Schluss erwischt er einen dann doch noch, der Moment emotionaler Überwältigung. Ein Distanzverlust, der die Kontrolle der körperlichen Reaktionen vorübergehend dem vegetativen Nervensystem überlässt – Gänsehaut. Denn auf der Bühne ereignet sich ein Temperatursturz: Der gerade noch ausgesprochen lebendige Chor steht jetzt still in fahlem Licht, die Menschen fast Schatten. Dann stimmt er Johann Sebastian Bachs «Matthäus-Passion» an: «Kommt Ihr Töchter, helft mir klagen ...
» Marta Górnicka beendet ihre «Hymne an die Liebe» mit dem Reenactment einer alten Schwarzweiß-Fotografie aus dem ukrainischen Konzentrationslager Janowska.
Das Bild der jüdischen Musiker aus dem nahe gelegenen Lemberg, die das tägliche Leben im Lager – Arbeitsmärsche, Selektion, Massenerschießungen und öffentliche Misshandlungen – mit deutschen Märschen, klassischer Musik und Vorkriegsoperette akustisch untermalen mussten, habe sie während der ganzen Arbeit am Projekt verfolgt, erklärt Górnicka im Programmheft. «Musik hat im Holocaust eine Rolle gespielt. Ich beschäftige mich mit der Allianz zwischen Lied und Mord.» Und weil dem kollektiven Mord die Selektion vorangeht – die säuberliche Trennung des ...
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Theater heute August/September 2017
Rubrik: Chronik, Seite 58
von Anja Quickert
In russischen Lettern ziert Miftis T-Shirt das Wort «Nadryw», Kennern von Frank Castorfs «Karamasow»-Inszenierung wohlbekannt als unübersetzbares Schlüsselwort für einen Zustand im Grellgraubereich zwischen Schmerzextase und Überspanntheit. Man muss Helene Hegemann keinen erneuten Plagiatsvorwurf daraus drehen, dass sie sich diesen Begriff aneignet: Er trifft...
Hannah (Carlotta Freyer) hat verstanden, wie der Hase läuft. «Du denkst, du hörst die Nachrichten», erklärt sie, «aber was du hörst, ist ein Echo!» Wir sind gefangen in Filterblasen, in denen die eigene Meinung wieder und wieder bestätigt wird, bis wir glauben, eine allgemein gültige Position zu hören. Bühnenbildnerin Katja Eichbaum hat für diese Echokammer ein...
Das Publikum hat sich zur angekündigten Uhrzeit in der Halle eingefunden und harrt der Dinge. Doch vom «performativen Programm», das hier stattfinden soll, ist weit und breit keine Spur. Nach zehn Minuten wendet sich schließlich eine Frau – anscheinend eine der Künstlerinnen – an die Wartenden. «Are you looking for the performance?», fragt sie freundlich und weist...