Freiheit, die ich meine
Herr Kohlhepp, war der Salzburger Manolios in Bohuslav Martinůs Oper «The Greek Passion» ein Schritt in Richtung neues Rollen-Biotop? Weil man nicht mehr so edelmütig bis passiv sein muss wie als Don Ottavio oder Tamino?
Ein Rollen-Image, das man vielleicht hat, sucht man sich nicht unbedingt selbst. Man hat ein gewisses Timbre, also werden einem automatisch bestimmte Partien zugeschrieben. Mit dem Tamino zum Beispiel hatte ich noch nie ein Problem.
Natürlich ist er auf eine gewisse Weise unfassbar naiv, läuft ständig einer Frau hinterher, und man kann nicht so recht begreifen, warum er quasi auf Kommando einer Aufgabe fast blind folgt. Und trotzdem: Die «Zauberflöte» prägt mich seit meiner Kindheit. Mit neun hatte ich erstmals den dritten Knaben gesungen. Jedes Mal, wenn die Ouvertüre beginnt, kriege ich noch heute Gänsehaut.
Bieten Mozart-Opern nicht doch eher Schaustücke und Arien-Kollektionen – im Unterschied zu Werken wie «The Greek Passion», in die man als Sänger emotional ganz anders eintaucht?
Mozart ist nicht nur Schau oder Maske, ein Eintauchen ist bei ihm unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Ich merke gerade, dass ich mich mit Don Ottavio nicht mehr identifizieren kann, mit Tamino oder Ferrando dagegen schon. Ottavio wird von der Regie meist als Schwächling dargestellt, das habe ich jetzt in der dritten oder vierten Produktion in Folge erlebt. Außerdem spüre ich, dass ich mich von Ottavio und insbesondere Belmonte stimmlich entferne. Im Grunde ist es so: Du singst dir einen Wolf und gewinnst am Ende nicht mal einen Blumentopf. Das ist eben das Los des Mozart-Tenors. Wobei sich die Frage stellt, was der Begriff überhaupt bedeutet. Ich singe in Köln jetzt den Idomeneo. Auch Tito ist nicht unbedingt eine größere Rolle als Tamino. Aber man verkörpert einen komplett anderen Charaktertyp.
Vielleicht ist die Tamino-Ottavio-Situation so besonders, weil man ständig in ein Ensemble eingepasst ist, aus dem man sich nur schwer hervorschälen kann und zur Mittelpunktsfigur eines Helden wird ...
Ich komme ja aus dem Chorgesang. Und für mich gibt es nichts Schöneres, als im Ensemble zusammenzuwirken. Ich fühle mich dann auf der Bühne viel wohler als in meinen Arien. Wir haben neulich in Zürich nach dem Quartett im ersten «Don-Giovanni»-Akt plötzlich Applaus bekommen. Das habe ich an dieser Stelle noch nie erlebt. Das sind für mich bewegende Momente.
Bekommt man als lyrischer Tenor irgendwann automatisch das Mozart-Label aufgeklebt?
Nein. Es gibt ja unterschiedliche Typen von lyrischen Tenören. Ich finde schon, dass ich relativ deutsch klinge. Man hat mich einmal gefragt, ob ich Donizetti singen wolle. Aber dort sehe ich mich überhaupt nicht, da fehlt mir ein charakteristischer Schmelz in der Stimme. Abgesehen davon bin ich einer, der eher gerade singt und rhythmisch genau. Ich schleppe ungern und benutze selten ein Schmierando.
Klingt sehr korrekt.
Manchmal muss ich mich fast dazu zwingen, etwas freier zu gestalten, Phrasen mehr auszusingen. Ich mag es, wenn im Team wirklich alles genau ineinandergreift und alle aufeinander eingehen. Außerdem achte ich auf eine genaue Textbehandlung – was vermutlich durch meine vielen Einsätze als Bach-Evangelist geprägt ist.
Sind für einen deutschen lyrischen Tenor alle Mozart-Aufgaben «nur» Durchgangsstationen, weil es immer auf einen Max oder Lohengrin hinausläuft?
Ganz prinzipiell halte ich nichts von diesem Denken. Man kann nur auf seine Stimme reagieren und die kurz- und mittelfristigen Planungen daran anpassen. Es ergibt keinen Sinn, als 25-Jähriger zu sagen: «Ich will mit 45 Tristan singen.» Vielleicht bin ich selbst da ein schlechtes Beispiel, ich habe mich nie unter Druck gesetzt, es hat sich immer alles irgendwie ergeben. Und nach wie vor bin ich im Mozart-Fach wahnsinnig glücklich. Ich halte es für das größte Qualitätsmerkmal einer Stimme, Mozart singen zu können. Es ist eine Art Kontrollmechanismus. Ich weiß trotzdem, dass Max, Erik und Lohengrin kommen werden. Das finde ich auch wünschenswert, ich arbeite daran. Was ich allerdings nie verstehe: wenn sich ein Sänger an zu schweren Aufgaben kaputtgebrüllt hat und irgendwann auf die Idee kommt, Mozart zu singen, weil dessen Musik angeblich leichter sei und der Stimme guttue. Es gibt keinen Komponisten, bei dem nicht brutaler offengelegt wird, wenn man seine Stimme nicht im Griff hat.
Brigitte Fassbaender hat einmal gesagt: Wer Mozart singt, ist nackt. Sie selbst fühlte sich dabei immer wie in ein Korsett gezwängt …
Das Wort «nackt» unterschreibe ich, wenn ich an Ottavios «Dalla sua pace» oder an Ferrandos «Un’aura amorosa» denke. Das Orchester bietet dem Sänger nicht viel Futter, und für den gilt: Friss oder stirb! Ein Korsett fühle ich aber nicht. Dieses Wenige unter der Singstimme erlaubt ja auch Freiheiten. Wenn ich mit «Dalla sua pace» beginne, bin ich der Chef, meine erste Phrase bestimmt das Tempo des Dirigenten. Wie gesagt: Ich mag es, wenn alles ineinandergreift. Um glücklich aus einem Opernabend rauszugehen, muss mich wirklich alles zufriedenstellen, nicht nur meine Leistung.
Wie häufig kommt das vor?
Zwei- bis dreimal im Jahr vielleicht.
Nochmals zur Rollenentwicklung: Wer hilft einem dabei, dass die Karriere organisch verläuft? Agenturen drängen gern aufs lukrativere «große» Fach, und an den Opernhäusern bekommt man kaum noch Chancen zum organischen Reifen.
Der Sänger hat natürlich das letzte Wort. Aber es ist doch mittlerweile so, dass vier, fünf große Agenturen die Opernhäuser in der Besetzungspolitik stark beeinflussen. Eine sehr gefährliche Situation. Letztlich werden damit nur eine Handvoll Karrieren wirklich geformt. Der Rest muss schauen, wo er bleibt.
Der Sänger als Marionette?
Ich sehe mich nicht als Marionette, weil ich das große Glück habe, von einer Agentur vertreten zu werden, die mich tatsächlich stimmlich begleitet und nicht irgendwohin treibt. Ich bin kein Alleinstehender und/oder Kinderloser, der nur mit dem Stricken seiner Karriere beschäftigt ist. Ich bin mittlerweile an einem Punkt, an dem ich ganz genau schaue: Was mache ich – und wo? Wahrscheinlich könnte ich auf der Karriereleiter schon viel weiter sein, wenn mir der Rest egal wäre. Aber ich will eben Zeit mit meiner Frau und unseren beiden Kindern verbringen. Ich will Konzerte singen, die mich interessieren. Ich will nicht nur aus dem Koffer leben.
Aber irgendwann sind Sie ja Freelancer geworden ...
Auch wenn es wunderschöne Ensemblejahre waren, vor allem die ersten beiden in Karlsruhe, so wusste ich doch: Das Ensemble ist für mich keine Dauerlösung. Ich wollte immer freischaffend sein. Weil ich eine Balance zwischen Oper und Konzert finden und selbst über meinen Kalender bestimmen wollte. Als ich an die Hochschule kam, hatte ich bis dahin nur Konzerte gesungen und keine Ahnung von der Oper. Bis zur Mitte des Studiums bin ich davon ausgegangen, dass ich meinen Lebensunterhalt als Evangelist bestreiten werde. Glücklicherweise hat mir meine Professorin Hedwig Fassbender den entscheidenden Tritt in den Hintern gegeben – und mich bei Opern-Vorsingen angemeldet. Es war ein riesiger Glücksfall, direkt vom Studium ins Festengagement nach Karlsruhe zu kommen. Ein fantastisches Orchester, ein großartiges Ensemble. Ich habe keine Partie gesungen, die mir nicht gutgetan hat. Gleich am Anfang Don Ottavio, Hylas in «Les Troyens», ein bisschen Operette, Barock, eine Kinderoper. In der zweiten Saison unter anderem den «Vetter aus Dingsda».
Und dann kam ein Jahr Wiener Staatsoper ...
Genau. Ich hatte seinerzeit Monteverdis «Ulisse» am Theater an der Wien gesungen, da riet man mir, nebenan an der Staatsoper vorzusingen. Mir wurde sofort ein Ensemblevertrag angeboten. Ich bin also mit Sack und Pack umgezogen und hatte vor, drei, vier Jahre zu bleiben. Nach drei Monaten wusste ich allerdings: Die Situation dort ist nicht so, wie ich sie mir wünsche. Meine größten Partien in dieser einen Saison waren Jaquino und Froh. Mir war schon klar, dass ich nicht gleich die Hauptrollen bekomme. Ich hatte mir jedoch gewisse Perspektiven erhofft. Immerhin: Ich konnte mein Netzwerk ausbauen. Aber ich sah keine Entwicklungsmöglichkeiten. Also riskierte ich ein Jahr als Freelancer und bin danach für zwei Jahre nach Stuttgart.
Wann fiel die Entscheidung für die Gesangskarriere? Schon im Limburger Knabenchor?
Ich hatte schon immer im Kopf, mit Musik mein Geld zu verdienen. Die Entscheidung für den Sologesang kam sehr spät. Anfangs habe ich mich eher in einem Rundfunkchor gesehen. Nach wie vor finde ich Chor etwas ganz Tolles, wenn ich als Solist – ob Oper oder Konzert – davorstehe. Die Schlusschöre in «The Greek Passion», während ich an der Rampe in der Blutlache lag und zuhören konnte – wow! In keiner anderen Situation stellen sich bei mir so die Haare auf. Ich hatte ja zunächst Schulmusik und Germanistik studiert. Anstatt in Vorlesungen zu sitzen, verbrachte ich meine Zeit jedoch in verschiedenen Chören, hauptsächlich bei Frieder Bernius in Stuttgart. Als Schulmusiker bin ich dann an der Frankfurter Hochschule eines Tages bei einem Projekt der Gesangsabteilung eingesprungen, eine solistisch besetzte Johannes-Passion. Danach sagten viele Kommilitonen, übrigens auch meine spätere Frau, die Gesangsstudentin war, ich solle es unbedingt mit dem Sologesang versuchen. Also bin ich zur Aufnahmeprüfung und habe bestanden. Während des Studiums habe ich parallel noch zwei Chöre dirigiert, um mir alles zu finanzieren. Bis Frau Fassbender sagte: «Das kann so nicht weitergehen, ich organisiere dir ein Stipendium.» Die Zeit als Dirigent hat mir trotzdem viel gebracht. Ich wünschte, mehr Kolleginnen und Kollegen hätten ein Gespür dafür, was dieser Mensch da vorn von einem will.
Haben diese Umwege dafür gesorgt, dass man mit gesünderer Distanz auf seine Profession blickt?
Ja, heute sehe ich darin nur Vorteile. Aber dieses Vorleben hat auch vieles verzögert und dafür gesorgt, dass ich mehr arbeiten muss für gewisse Dinge. Meine Professorin hat immer gesagt: «Du bist viel zu sehr Musiker. Kannst du nicht einfach ein dummer Tenor sein und drauflos singen?» Sie wurde schier wahnsinnig, wenn ich mich in den Gesangsstunden ständig selbst unterbrochen habe.
Ihre Frau ist Sängerin. Dreht sich zu Hause auch alles um Musik?
Das Hauptthema ist die Familie. Unsere Tochter ist vier, unser Sohn ist sieben Jahre alt. Wenn wir Engagements angeboten bekommen, reden wir darüber und stimmen das ab, weil es ja um die Betreuung der Kinder geht. Insofern ist der Job ständig präsent. Aber es ist nicht so, dass wir beim Mittagessen oder abends auf dem Sofa sitzen und dauernd Geschichten über die Opernszene austauschen. Privat höre ich außerdem sehr wenig klassische Musik. Und ich muss gestehen, dass ich ein ganz schlechter Konzert- und Operngänger bin, weil ich mich nicht fallenlassen kann. Ich stelle mir immer vor: wenn ich nicht mehr singe, dann könnte man doch Kulturreisen machen. Aber ich befürchte, dass ich nie entspannt sein werde, weil ich dauernd analysiere.
Es fällt auf, dass Sie zwar Accounts auf Social Media haben, dort aber nicht exzessiv unterwegs sind. Auch sonst scheinen Sie das Rampenlicht nicht gerade zu suchen.
Ich betreibe Social Media selbst, aber nur, um diejenigen, die es interessiert, über meine aktuellen Stationen zu informieren. Essen posten, die Klamottenauswahl oder die morgendliche Routine im Badezimmer, wie es manche tun, finde ich haarsträubend. Privatperson und Künstler verschwimmen völlig. Das kann sich zu einer Sucht entwickeln. Meines Wissens ist noch keiner an einen hochdotierten Opernvertrag gekommen, weil er Social-Media-Posts absetzt. Es gibt mittlerweile Vermarktungsstrategien, die völlig weggehen von der eigentlichen Sache. Man inszeniert Klassik- wie Pop-Sternchen und erhofft sich davon eine größere Resonanz. Ein Erfolg im Klassikbusiness stellt sich auch ohne das Tamtam ein, das sehe ich an mir selbst. Ich habe keine berühmten Eltern, nie einen Förderpreis bekommen, nie einen Wettbewerb gewonnen, keinen Mäzen im Hintergrund. Trotzdem habe ich es an die Scala oder nach Salzburg geschafft. Das gibt mir die Hoffnung, dass ich auf meine Art und Weise weiterkomme. Das macht mich total glücklich. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Da ist auch ein gewisser Stolz.
Opernwelt März 2024
Rubrik: Interview, Seite 32
von Markus Thiel
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