Gott, welch Dunkel hier!
Vor dem zweiten Aufzug informiert eine Einblendung darüber, dass den an dieser Produktion beteiligten Tieren kein Leid zugefügt wurde. Das lässt hoffen, den Pferden der Walküren sei nicht zuvor für sie präpariertes Valium verabreicht worden. Seelenruhig stehen sie mitten im allgemein aufgekratzten «Hojotoho!», trappeln gemächlich mal nach links, mal nach rechts und scheinen jedenfalls ohne Schmerz. Auf ihren Rücken tragen sie gefallene Krieger zum Weitertransport in Wotans Ehren-Walhall.
Echte Pferde! Echte nackte Männer!
Zum Einsatz von Tieren auf der Bühne liest man später Kluges und Grundsätzliches im opulenten Programmbuch: dass Tiere das Theater als Ort der Repräsentation durch ihr reines, unschuldiges Sein durchkreuzen; dass sie die Kunstbühne um das Kreatürliche erweitern und vertiefen. Es gilt schon für Hundings Hund, einen schwarzen Wolfs- oder Schäferhund, im ersten Aufzug, es gilt auch für die zahllosen weißen Tauben, die Frickas Auftritt im zweiten begleiten. Der aufgehängte, in den Himmel gezogene Hunding-Hund, nachdem Wotan dessen Herrchen umgelegt hat, und die von Fricka persönlich erwürgten zwei Tauben sind natürlich fake. Gut zu wissen, dass die Tierschau des Regisseurs, Bühnen-, Kostüm- und Lichtbildners Romeo Castellucci einen tieferen Sinn hat, denn man könnte die Pferde und Tauben auch für eben das halten, was sie dezidiert nicht sein sollen: Teil einer Spektakulisierungsmasche mit Überbietungsmechanik. Ein lebensechtes Ross Grane hat man schon anderswo gesehen, aber gleich deren acht?
«Die Walküre», Teil zwei des beliebtesten Fortsetzungskrimis der Operngeschichte, schreibt das «Rheingold» in Brüssel ästhetisch und dramaturgisch konsequent weiter. Zumindest so weit wie möglich. Die Geschichte des Inzestpaars Siegmund und Sieglinde, die Zeugung des von Wotan für die Rückgewinnung des Weltmacht-Rings so dringend benötigten «freien» Helden Siegfried, die allmähliche Erhellung des absehbaren Scheiterns dieses Plans, schließlich die große Vater-Tochter-Konfrontation, Bestrafung der ungehorsamen Walküre Brünnhilde, die doch nur des Vaters eigentlichen Willen ausführte, als sie gegen dessen Anweisung im Kampf gegen den betrogenen Ehemann Hunding für Siegmund optiert – diese dreifache Tragik, entfaltet in großen Dialogen, erzählt sich eben anders als das personenreich schnelle, mitunter witzige Konversationsstück «Rheingold». Tatsächlich gelingt Romeo Castellucci in diesen zentralen Begegnungen – Siegmund/Sieglinde, Wotan/Fricka, vor allem der finalen, auf leerer Bühne stattfindenden zwischen Wotan/Brünnhilde – eine auf das menschlich Wesentliche konzentrierte Personenführung, und sehen wir Sängerinnen und Sänger, die das zu beglaubigen vermögen, mit durchgehend sparsamen Gesten. Das würde, im Fall der «Walküre», für einen spannend erzählten Abend genügen. Doch dann findet man sich wieder im Castellucci-Theater der tanzenden Zeichen, und es erweist sich als gar nicht leicht, die freien Assoziationen, die hier angeboten werden, als reine Poesie zu nehmen. Die Dechiffriermaschine läuft und will sich einen Reim machen auf Frickas Taubenmord, auf die magisch bewegten Möbel im Hause Hunding (erst ein Schranklager, dann ein Bett, ein Kühlschrank und eine Art Beichtstuhl), auf die Orgie aus (Wälsungen-?)Blut und Milch, die das Geschwisterpaar vor dem Heldenzeugen veranstaltet; warum Sieglinde dem Bruder das Schwert gibt respektive ihn es aus ihr herausziehen, dann aber im Kühlschrank verschwinden lässt. Und was bedeuten die Zeichen auf den vielen Mänteln, die Sieglinde dem Bruder, Schicht um Schicht, umhängt?
Erspart bleibt uns in der neuen Brüsseler «Walküre» jedenfalls die ewige Verlegenheit des Schwertherausziehens mit anschließendem Gefuchtel. Schwer zu sagen indes, warum Brünnhilde für ihren langen Schlaf in eine Art Kühlbox geschickt wird, der visuelle Feuerzauber also zunächst verweigert, nach dem Ausglühen des musikalischen dann aber von Wotan doch noch schnell als Feuerring gezündet wird – vielleicht als Pendant zum Vorab-Bild eines durch Sturm und Wasserfluten flüchtenden Siegmund? Auch bleibt unklar, warum sich Wotan jetzt einen Buddha-Kopf auf den Rücken schnallt, von dem im «Rheingold» der Torso zu sehen war, und was Frickas und ihrer fünf Begleiterinnen mächtig weißer Königinnen-Kokon meint. Eindeutiger sind da schon die Buchstaben der fünf schwarzen Fahnenträger, die Wotan flankieren: Sie ordnen sich am Ende zum Sinnbild «I-D-I-O-T», aha. Farblich dominiert eine Schwarzweiß-Kontrastierung, die der erklärten Absicht, nicht Gut und Böse zu zeigen, keine Figur zu denunzieren, eigentlich zuwiderläuft. Und immer wieder der Gedanke: Gott, ist das dunkel hier. Wer weiß, was man einfach nicht erkennen kann. Wenn Sieglinde auf der Flucht sich erschöpft auf Erdhaufen bettet, werden die bald zu lebendig-finsteren Wesen, womöglich aus Hundings Untoten-Truppe. Das spiegelt die eindrucksvolle Körperchoreografie für das Walhall-Bild aus dem «Rheingold» ins Gruselige. Castellucci zeigt schwarzes Theater, das regt den Ahnungssinn an, aber bisweilen verliert man auch den Faden.
Wotans Verstrickungen, soviel ist klar, bedeuten eine fundamentale und unheilbare Störung dieser Weltordnung (die man sich in einer Art Fantasy-Ferne denken könnte). Gábor Bretz singt den Obergott ziemlich geradlinig, ohne Prätention, gibt ihm stimmlich etwas mehr Format als im «Rheingold» – und lenkt doch den Blick von der Wotanfigur eher ab. Peter Wedd, der als Siegmund den Verletzten und Verletzlichen gut verkörpert, kämpft mit der Aussprache und Anforderungen des Heldischen: kein «Wälse»-Stentor. Nadja Stefanoffs Sieglinde dagegen macht jedes Wort verständlich, anrührend schlicht, von betörender Klarheit und Wärme vor allem im mittleren Register. Ante Jercunica ist ein Hunding mit machtvoller Schwärze, Ingela Brimberg eine schlank geführte, mit schönen Farben dunkel timbrierte Brünnhilde mit Reserven bis zum Ende. Der Wotan-Sphäre des Politischen steht sie ganz fremd gegenüber, eine Reine, verwundert über das, was ihr geschieht. Stark das Walküren-Oktett ihrer Schwestern.
Alain Altinoglu setzt mit dem Orchestre symphonique de la Monnaie in der initialen Sturmmusik gute Akzente, initiiert einen fiebrigen Puls, der viel erwarten lässt, bleibt aber schon den Steigerungen des ersten Aufzugs die nötige Leidenschaft schuldig. Über den langen Abend hin bestätigt sich der Eindruck aus dem «Rheingold»: Es dominiert der Wunsch nach Durchhörbarkeit, nach Konturen, aber dann mangelt es doch an der nötigen Balance, geht manche Streicherschönheit unter, wackeln die Bläsereinsätze, wie etwa bei der Todesverkündigung. Es gibt schöne Details, wie die seidenfeine Streicherkantilene in Wotans Abschied, doch der rechte flow stellt sich nicht ein. Das Publikum am Premierenabend nahm es nicht übel und feierte gerade das Orchester und seinen Chef.
Bleibt die eine große Frage: Wissen wir, wie das wird? Castelluccis Brüsseler «Ring» spannt, anders als gerade Peter Konwitschny in Dortmund, allerhand Fäden über die Einzelwerke hinaus. Da könnte sich noch einiges Verstrickte entwirren, aber erst in der nächsten Saison, der letzten der Intendanz von Peter de Caluwe.
Wagner: Die Walküre BRÜSSEL | THÉÂTRE DE LA MONNAIE
Premiere: 21. Januar 2024
Musikalische Leitung: Alain Altinoglu
Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht: Romeo Castellucci
Choreografie: Cindy Van Acker
Dramaturgie: Christian Longchamp
Solisten: Peter Wedd (Siegmund), Ante Jerkunica (Hunding), Gábor Bretz (Wotan), Nadja Stefanoff (Sieglinde), Ingela Brimberg (Brünnhilde), Marie-Nicole Lemieux (Fricka), Karen Vermeiren (Gerhilde), Tineke Van Ingelgem (Ortlinde), Polly Leech (Waltraute), Lotte Verstaen (Schwertleite), Katie Lowe (Helmwige), Marie-Andrée Bouchard-Lesieur (Siegrune), Iris van Wijnen (Grimgerde), Christel Loetzsch (Rossweiße)
www.lamonnaiedemunt.be
Opernwelt März 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 6
von Holger Noltze
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