Editorial März 2022

Opernwelt - Logo

Manchen Menschen sieht man schon an der Art, wie sie gehen, an, dass sie Ungebührliches im Schilde führen.

Und jene mittelmäßig elegant gekleidete Dame gehobenen Alters, die da (in der Erinnerung liegt die allerdings unvergessene Begebenheit geschlagene neun Jahre zurück) während der zweiten Pause einer «Tannhäuser»-Aufführung in stechendem Schritt durchs obere Foyer des Staatstheaters Kassel rauschte, machte auch in ihrer Mimik nicht unbedingt den Eindruck, als wolle sie den an einem «Debattier»-Tisch vorsorglich postierten Dramaturgen zu einer gemütlichen Plauderviertelstunde inklusive eines Gläschen Sekts bitten. Nein, die Dame war schlichtweg und grundsätzlich erbost. Und das brachte sie wortreich auch zum Ausdruck. Quintessenz ihrer geharnischten Philippika: Der «dort» (sie meinte: auf der Bühne) präsentierte «Tannhäuser» sei eine Zumutung, er entspreche nicht «im entferntesten» den hehren Absichten seines genialen Schöpfers; ja, schlimmer noch, diese Inszenierung verhöhne selbige sogar in übelster Weise. An dieser Stelle (die eloquente Anklägerin holte gerade Atem), wandte nun spitzfindig der Dramaturg ein, es sei ja durchaus und im besten Sinn des Wortes frag-würdig, welche Absichten, seien sie nun hehr oder nicht, Wagner gehabt habe, und es sei Lorenzo Fioronis – im übrigen luzide – Lesart ja eben eine solche – eine «Lesart» nämlich. Ob sie denn die Telefonnummer von Richard Wagner habe. Diese, zugegeben süffisante, Bemerkung bedeutete das Ende der Diskussion. Die Dame wandte sich mit Grausen ab und schritt, prall gefüllt mit thymotischen Energien, von dannen. ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Opernwelt? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Opernwelt-Artikel online lesen
  • Zugang zur Opernwelt-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Opernwelt

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Opernwelt März 2022
Rubrik: Editorial, Seite 1
von Jürgen Otten

Weitere Beiträge
Materialschlacht

Im Gleichschritt des Gänsemarschs und mit tief gebeugten Rücken trippeln die Mägde auf einem schräg in den Bühnenboden gerammten Zylinder. Darauf ist ein Drehbühnenumlauf eingerichtet, dessen Bewegungsrichtung die schwarz uniformierten Damen stets stramm entgegengehen, wodurch sie im Ergebnis jedoch kaum vom Fleck kommen. Die unmenschlichen, dezidiert tierischen...

Ensemblekultur

Faszinierend, wie produktiv ein Mensch als Schriftsteller und Komponist in einem hauptsächlich als Jurist verbrachten Leben sein kann. Zerknüllte Manuskriptseiten füllen am Münchner Gärtnerplatztheater bühnenhoch die Wände, die Sockel der über die Bühne verteilten Vitrinen  verzeichnen nur einige der Werktitel E.T.A. Hoffmanns. Darunter die, die in die Oper über...

Aus Kindersicht

Bevor der erste Ton zu hören ist, hat die Aufführung längst begonnen. Von einem Kameramann beobachtet, ist ein kleines Mädchen zu sehen. Auf einem Steg, den Pia Dederichs und Lena Schmid hinter den ersten Sitzreihen quer durch den Saal gebaut haben, entsteht unter ihren Händen eine Osteria im Mini-Format. Erst als sie fertig ist, kann John Falstaff hineinpoltern in...