Editorial April 2017

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Errare humanum est. Menschen irren, und das ist auch gut so. Ohne Irrtümer gibt es keine Erkenntnis, ohne Fehler wird man selten klug. Die Kritik bildet da keine Ausnahme. Wer urteilt, kann falsch­liegen. Wer wertet, kann danebenzielen. Kritiker, zumal solche, die sich mit Musik beschäftigen, der flüchtigsten aller Künste, bewegen sich auf instabilem Terrain. Manchmal auch in offenem, unerschlossenem Gelände, wo nichts und niemand Orientierung bietet. Außer die alte Weisheit Ciceros: Errare humanum est.

Das Bewusstsein dafür, dass alle Erkenntnis, jedes Urteil vorläufig, mit Vorsicht zu betrachten ist. Die Gewissheit, dass die Suche nach Wahrheit nichts letztgültig Gewisses, sondern – im Idealfall – eine geistige Bewegung beschert, die sich in einem vielstimmig wägenden Dialog ereignet, der nie zu Ende geht. Ein Gespräch, das auf dem Austausch von Argumenten und Beobachtungen beruht. Das mit Empathie, Respekt für die anderen und Kompetenz in der Sache geführt wird.

Warum wir an diese Selbstverständlichkeiten erinnern? Weil eine Kritik, die ihren Ort, ihre Grenzen, auch ihren mitunter folgenreichen Einfluss fragend mitdenkt, offenbar so selbstverständlich nicht mehr ist. Daumen rauf, Daumen runter, jeden Tag millionen-, milliardenfach: Im virtuellen Raum des Netzes dominiert längst ein sekundenschnelles, reaktives Kommentarwesen, das unempfindlich für Zwischentöne, geschweige denn selbstkritische Skepsis ist. Je simpler, je lauter, desto besser. Recht hat, wer Aufmerksamkeit erzielt, besagt die neue Logik. Mit allen Bandagen wird der Wettbewerb um die kostbarste Ressource des digitalen Zeitalters ausgefochten. Und so mag auch die Gewöhnung an diese Kultur der lärmenden, verkürzten Botschaften eine Rolle gespielt haben, als «Die Zeit» Ende Februar einen 62-Zeilen-Text veröffentlichte, der die Mängel eines neuen, an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführten Stücks mit der Homosexualität des Komponisten, Librettisten, Regisseurs und Intendanten verknüpft.

Der casus belli: eine große Oper über den englischen König Edward II. (1294-1327), die dessen Liebesbeziehung zu einem Mann in den Mittelpunkt rückt. Geschrieben hat sie der Schweizer Andrea Lorenzo Scartazzini auf ein Libretto von Thomas Jonigk, die Inszenierung besorgte Christof Loy. Kein einziger Name wird genannt, das Ganze gleichwohl in dreifachem Fortissimo («jämmerlich») als Entgleisung der «geballten schwulen Bühnenkreativwirtschaft» abgekanzelt. In einem offenen Brief wies Ulrich Khuon, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, darauf hin, wie «Sprache», «Metaphernfelder» und «Konnotationen» hier an Strategien «diskriminierender Diskurse» erinnern. Wie konnte das passieren?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich ist es erlaubt, bisweilen sogar notwendig, mit scharfer Zunge auszuteilen. Auch unser Rezensent geht mit Scartazzinis Oper hart ins Gericht (Seite 14). Es geht um das Wie, um Tonlagen, Stilmittel, eine Haltung, die einladen, eine gefährdete Tugend zu verteidigen: die qualifizierte, sich in den Gegenstand, in Gedanken und Intentionen des Gegenübers versenkende, reflektierende Rede. «Das macht viel Arbeit und bedeutet ständige Aushandlung, Reibung, Überprüfung der eigenen Perspektiven und Zusammenhänge», schreibt Ulrich Khuon mit Blick auf das, was ihm als «gelebter Universalismus» im Theater vorschwebt. Das gilt auch für die Kritik. Mehr denn je.


Opernwelt April 2017
Rubrik: Editorial, Seite 1
von Jürgen Otten & Albrecht Thiemann

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