Dead Jean Walking

Einst war Giacomo Meyerbeer der meistgespielte Opernkomponist Europas. Anfang des 20. Jahrhunderts verschwand er von den Spielplänen. Trotz mancher Versuche, seine Grand opéras wieder im Repertoire zu verankern, lässt der große Durchbruch auf sich warten. Das könnte sich bald ändern: Die Deutsche Oper Berlin plant Neuproduktionen von «Vasco de Gama» (2015, mit Roberto Alagna in der Titelpartie), der «Hugenotten» (2016) und des «Propheten» (2017). Zum Auftakt des Zyklus gab es ein Symposium und eine konzertante Aufführung von «Dinorah». Unterdessen legte das Staatstheater Braunschweig schon mal eine neue szenische Version von «Le Prophète» vor.

Die erstaunlichste Erkenntnis beim Braunschweiger «Propheten» (wieder einmal): Die großen Opern Giacomo Meyerbeers sind zu machen, auch an Stadttheatern. Die Chorszenen packen unmittelbar. Die Partitur ist reich an Ohrwürmern. Nach 90 Minuten, sprich: nach dem dritten Akt, geht das in der zweiten Vorstellung nicht übermäßig zahlreiche Publikum den Triumphmarsch summend in die Pause. Die Gespräche drehen sich um die «herrlichen Melodien» dieses unbegreiflicherweise selten ­gespielten Stücks. Nach weiteren 75 Minuten, also nach dem fünften Akt, wird rhythmisch geklatscht.

An der Garderobe hört man Jeans Trinklied. Im Gästebuch bedankt sich manch ein Besucher für die «wunderbare Aufführung».

Die Grand opéra muss nicht auf große Oper machen, um zu funktionieren. «Le Prophète» entpuppt sich als Kammerspiel mit Chören (was man bei «Aida» längst entdeckt hat). Meyerbeers Anti-«Parsifal», der den Welterlöser als Demagogen entlarvt und dort anfängt, wo Wagner aufhört, indem er zeigt, was nach der Gründung einer Sekte alles schieflaufen kann, ist modernen Regiehandschriften nicht nur zugänglich, sondern ein gefundenes Fressen für sie. Wo kann man sonst so präzise und packend erleben, wie ein ...

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Opernwelt Dezember 2014
Rubrik: Im Focus, Seite 18
von Boris Kehrmann & Stephan Mösch

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