Zwei Schwestern

Philippe Boesmans‘ «Julie» in Senftenberg, Bernard Foccroulles «Cassandra» als Uraufführung in Brüssel

Zwei Frauen. Wenig scheint sie zu einen, zu grundverschieden sind ihr Charakter, ihre soziale Stellung auf den ersten Blick.

Hier die stolze trojanische Königstochter, Schwester (unter anderem) des Helden Hektor und des Schönlings Paris, welcher Apollon die seltene Gabe der Weissagung schenkte, sie aber, nachdem Kassandra sein erotisches Begehren brüsk abgewiesen hatte, mit dem Fluch versah, niemand würde je ihren Prophezeiungen Glauben schenken; dort die verwöhnt-überspannte, geschwisterlose Grafentochter, der die Tore zur Welt offenstehen, die sich aber in ihrem ohnehin höchst ambivalenten Verlangen nach dem Diener Jean heillos verrennt. Und doch gibt es etwas, das ihnen beiden eingeschrieben ist: das Verrückt-Sein, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Kassandra nur als verrückt gilt, während Julie tatsächlich eine Traviata ist, eine vom Weg abgekommene.

In Philippe Boesmans‘ Kammeroper von 2005, die ihren Namen trägt, aber auf das vorangestellte «Fräulein» der Vorlage, August Strindbergs sozialkritischem Trauerspiel aus dem Jahr 1888, verzichtet, besteht mit den ersten Worten der Köchin Christine (die bei Strindberg verniedlichend «Christel» heißt), kein Zweifel ...

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Opernwelt November 2023
Rubrik: Im Focus, Seite 16
von Jürgen Otten

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