Von der Kunst, den Witz zu verfehlen

An Prokofjews «Liebe zu den drei Orangen» interessiert Evgeny Titov weniger die vordergründige Groteske als die Entwicklungsgeschichte des kranken Prinzen. In Dresden inszeniert er das Stück tiefenpsychologisch und mit distanziertem Humor

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Gelacht?» «Kein bisschen.» Die Antwort ist einigermaßen desaströs für einen Spaßmacher, dabei hatte sich Truffaldino, der Narr, doch so ins Zeug gelegt, um den kranken Prinzen zum Lachen zu bringen. Als aufgebrezelte Krankenschwester war er auf die Bühne gesprungen, mit Polsterhintern und bald sichtbar werdendem Riesen-BH, und hatte sich selbst eine Spritze in den ebenfalls grotesk aufgepolsterten Oberschenkel appliziert. Doch der Prinz, der mit einem Lachen geheilt wäre, verzieht keine Miene. Und im Publikum? Lacht ebenfalls niemand.

Allerhöchstens ein Schmunzeln sieht man da oder dort. Ist das nun ein Desaster auch für den Regisseur Evgeny Titov, der hier sein Debüt an der Semperoper gibt? Da sollte man vorsichtig sein. Dem Publikum scheint ein Spaß versagt, dafür vermag es sich in seiner Reaktion mit dem Prinzen zu identifizieren, der keinen Spaß fand an etwas, das ihm Freude bereiten sollte. Wenn es Titovs Absicht war, dem Publikum etwas zu zeigen, das komisch sein sollte, sein Ziel aber gewollt knapp verfehlte, dann gelang ihm hohe Kunst.

Nichts auf dem Theater ist ja heikler als die Dosierung von Humor. Unzählig sind die Schattierungen zwischen Witz, Klamauk, Groteskem und Absurdem – bis hin zum Unfall: dem ungewollt Komischen. Diese Feinheiten scheinen Titov zu interessieren in seiner Inszenierung der «Liebe zu den drei Orangen». Was aber den Unterschied ausmacht zwischen krachend gelandeter Komik (die seit den großen Erfolgen Barrie Koskys zu einer erstrebenswerten Facette der Opernregie geworden ist) und einer Groteske, die durch ihre Seltsamkeit fesselt, darüber kann man als Betrachter in Dresden nur rätseln. Hat es mit dem kalten Licht (Fabio Antoci) zu tun, das stets hart von der Decke herunterleuchtet und die Betriebstemperatur so sehr abkühlt, dass Gemütlichkeit als Vorstufe zur Heiterkeit erst gar nicht entstehen kann? Oder erzeugt der weite, hohe Raum, den Bühnenbildner Wolfgang Menardi möglichst offen hält (den Sängerinnen und Sängern akustisch durchaus zum Nachteil) ein Unbehagen, das vom gemütvollen Lachen abhält? Das Regie-Team entwickelt jedenfalls sehr kunstreich eine Atmosphäre, in der – Prokofjews Libretto ganz und gar entsprechend – die Figuren komisch handeln, ohne dass die komische Wirkung aber unmittelbar in den Vordergrund gelangen würde. Weite Passagen des Abends verfolgt man wie einen Stummfilm vergangener Zeit: Worüber früher gelacht wurde, erzeugt nun Erstaunen und ein nahezu wissenschaftliches Interesse.

Genau diese distanzierende Wirkung dürfte Evgeny Titov beabsichtigt haben, denn im Zentrum von Prokofjews bekanntester Oper steht für ihn nicht das vorderhand Komische, sondern die Entwicklungsgeschichte des Kronprinzen. Ihr widmet sich der Regisseur mit tiefenpsychologischer Hingabe. Krank ist dieser Prinz, was für Titov heißt: Er leidet bis hin zur Depression an der Bürde seiner Bestimmung. In der Dresdener Inszenierung liegt der Prinz energielos im Krankenhausbett, umschwirrt von Ärzten und Pflegern, die in ihrer weißglänzenden Gummi-Kostümierung (Emma Ryott) die Mitte halten zwischen Schlachtund Krankenhaus. «Hypochondrische Verschleimungen», lautet die phantastisch anmutende Diagnose in der pointierten deutschen Übersetzung von Werner Hintze, die in Dresden verwendet wird. In Wahrheit, so Titov, ist der Prinz vom Vater, dem König, blockiert, der ihn in die monarchische Pflicht nimmt, um seinerseits in Depression zu verfallen, als es der Prinz endlich schafft, sich aus dem goldenen Käfig zu befreien: Im fliegenden Wechsel übernimmt der König ebenjenen Platz im Bett, den der erstarkte Prinz soeben frei gemacht hat, um in wilder Begeisterung den drei Orangen nachzujagen. Eine feine Pointe der Regie, die von der Verschiebbarkeit seelischer Komplexe erzählt. Nun jammert und barmt der König, dem Georg Zeppenfeld eine Anmutung des Würdevoll-Melancholischen gibt. In pantomimischer Überzeichnung, mit märchenhaft wucherndem Rauschebart, gibt der Bassist Sorge und Schmerz Ausdruck – wiederum befindet man sich hier in der irrealen Ästhetik des Stummfilms.

Der Eindruck des Unwirklichen spielt in dieser Inszenierung überhaupt eine große Rolle. Das kalte Deckenlicht wird von tannenbaumgrünen Fliesen (sie sollen offenbar an einen Operationssaal erinnern) und von gummiglänzenden Kostümen zurückgeworfen. Die drei Orangen erscheinen von einem grellen Licht begleitet, das den Betrachter blendet, als würden hier Frucht-Sonnen strahlen. Zugleich ist dieses Licht voll Giftigkeit – die Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit von Titovs Bühnenwelt bleibt auch hier, im Moment der Verheißung, in Takt. Dass große Teile dieser Oper Träume oder Albträume des Prinzen sind, stellt sich für den Regisseur wohl als ernstzunehmende Option dar.

Entsprechend erscheint der Prinz auch kaum geheilt, als er schließlich doch lachen muss. Die Hexe Fata Morgana kullert die gewaltige Bühnentreppe herunter, der Thronfolger sieht sich zu manischem Lachen gereizt. Gelächter aus bloßer Schadenfreude: Von Reife oder seelischer Gesundheit zeugt das nicht. Weshalb sich an der kühlen Bühne rein gar nichts ändert, nur dass der Prinz, den Mauro Peter als hyperempfindsamen, aber knuddeligen Sonderling spielt und singt, nun in ungehemmter Verliebtheit den Orangen nachstellt. Auch das nicht gerade ein Ausdruck von Gesundheit. Die Hexe mag ihn zu dieser seltsamen Leidenschaft verflucht haben, in Titovs Inszenierung erscheint der Fluch aber vielmehr als innerer Zwang. Die Wüste, die der Prinz gemeinsam mit seinem Begleiter Truffaldino durchqueren muss, nachdem er die Orangen fand – hier ist es ein Gleichnis über einen Rückfall des Manisch-Depressiven in eine Phase der Kraftlosigkeit. Der komatöse Schlaf des Anfangs sucht ihn wieder heim, entsprechend «verdursten» die beiden Prinzessinnen, die von Truffaldino aus den Orangen entlassen werden: keine Liebe, die sie am Leben erhalten könnte. Dass die dritte Prinzessin, die der aus seiner neuerlichen Depression erwachte Prinz mit seiner Zuneigung am Leben erhält, einen ihrer ersten Gedanken daran verschwendet, ob sie auch dem Vater des Prinzen, dem König, gefallen würde: ein weiterer Nachweis, wie recht Evgeny Titov mit seiner tiefenpsychologischen Auslegung hat. Die bestimmende Macht, mit der sich hier alle aus -einanderzusetzen haben, ist der Vater, der ohne relativierende Position herrschen darf: Eine Mutter, eine Königin, gibt es in diesem Stück ja seltsamerweise nicht.

Frei von Kühle bleibt die Musik, und das ist ein durchaus wirkungsvoller Kontrast, der den analytischen szenischen Ansatz umso klarer hervortreten lässt. Die Sächsische Staatskapelle spielt Prokofjews Partitur unter Erik Nielsen mit einem instrumentalen Funkeln, das aber immer verbindlich bleibt – stets bleiben die Fühler ausgestreckt hin zum exzellenten Sängerensemble. Neben Mauro Peter und Georg Zeppenfeld glänzt der Tenor Aaron Pegram als quicker Truffaldino. Sauber eingerahmt ist dessen quellender Kugelbauch von Hosenbund und zu kleinem Jackett, so sauber, dass der angestrebte Witz kunstvoll verfehlt ist. Gelacht? – Kein bisschen. Doch an diesem Abend verbirgt sich dahinter große Kunst.

Prokofjew: Die Liebe zu den drei Orangen
DRESDEN | SEMPEROPER 
Premiere: 7. Dezember 2024
Musikalische Leitung: Erik Nielsen
Inszenierung: Evgeny Titov
Bühne: Wolfgang Menardi
Kostüme: Emma Ryott
Licht: Fabio Antoci
Chor: Jonathan Becker
Solisten: Georg Zeppenfeld (König), Mauro Peter (Prinz), Nadezhda Karyazina (Clarissa), Neven Crnić (Leander), Aaron Pegram (Truffaldino), Danylo Matviienko (Pantalon), Alexandros Stavrakakis (Tschelio), Flurina Stucki (Fata Morgana), Georgina Fürstenberg (Smeraldina) u. a.


Opernwelt Februar 2025
Rubrik: Im Focus, Seite 10
von Clemens Haustein

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