Schuld und ein bisschen Sühne
Liebe vergisst alles», sagt der Pastor, doch er erntet nur stilles Gelächter. Zu vergessen gibt es hier viel: Ein Jugendlicher richtete an seiner Schule einst zehn Mitschüler und eine Lehrerin hin, jetzt, zehn Jahre später, tragen die Überlebenden und Übriggebliebenen an der Vergangenheit. Kaija Saariahos letzte Oper «Innocence» – die finnische Komponistin starb 2023 – wäre ein bloß düsteres Stück, wenn es am Ende nicht doch einen Ausblick geben würde auf mögliche Bewältigung.
Die traumatisierten Mitschülerinnen und Mitschüler, die zuvor nicht sprachlos, aber doch ohne Melodie über die Bühne gegeistert waren (es sind reine Sprechrollen), beginnen plötzlich an eine Zukunft zu glauben: Sie äußern Berufspläne, erzählen von der Lust auf einen Neuanfang in einem fremden Land, berichten von der Linderung ihrer Traumata. Und Markéta, die beim Massaker starb und nun als Untote auf die Bühne zurückkehrt, hat nur noch einen Wunsch an ihre Mutter, deren Denken auch zehn Jahre nach der Tat immer um den Tod der Tochter kreist: «Lass mich los!». Das ist durchaus als therapeutischer Ratschlag zu verstehen: Nur mit dem inneren Loslassen der Tochter wird die Mutter Ruhe finden können. Und eine Chance auf Heilung.
Saariahos Musik deutet in dieser Schlusspassage des Stücks die Heilung schon an, sehr zart, aber doch unmissverständlich. Die Klänge hellen sich auf, die zuvor oft eisige Kälte der Musik erwärmt sich um ein paar wohltuende Grade, das fragmentarische Gluckern der Holzbläser erzählt nun nicht mehr von zerrissener Individualität und angstvollem Schweifen, sondern von einem noch vorsichtig aber doch frisch sprudelnden Lebensquell. Am Ende – das Orchester hat schon aufgehört zu spielen – bleibt nur Markétas Mutter auf der Bühne zurück. Ihr Schluchzen darf man als ersten Schritt begreifen, der Forderung der Tochter loszulassen, nachzukommen.
Darauf folgt im Saal betretene Stille und bald ein angefasster, lange nicht enden wollender Applaus. Nicht selbstverständlich, dass eine zeitgenössische Oper («Innocence» erlebte seine Uraufführung 2021 in Aix-en-Provence) vom Publikum so verständig aufgenommen wird. An der Semperoper dürfte das auch damit zu tun haben, dass tatsächlich ein Gesamtkunstwerk vorliegt. Saariahos unbehagliche, aber subtile Musik wird von Regisseur Lorenzo Fioroni und seinem Team mustergültig gespiegelt. Das kühle Zwielicht der Klänge schimmert auch auf der Bühne, wenn ein Kreis von Scheinwerfern die Szenerie in kaltes Licht setzt. Schneeflocken rieseln herunter und greifen eine Poesie auf, die auch in Saariahos Musik immer wieder zu entdecken ist (so hart sie auch oft ist in ihrer psychologischen Wahrhaftigkeit). Äußerst genau schließlich folgen die Figuren in ihren Bewegungen dem Charakter und dem Energielevel der Musik.
Auch wenn Saariaho selbst von einer «Verkleidung» ihrer Oper «als Thriller» sprach, hat sie kein Horrorstück im eigentlichen Sinn geschrieben. Wie die gute Wendung am Schluss nur angedeutet ist, geht die Komponistin schon zuvor so vorsichtig mit den klanglichen Mitteln um, dass die Musik sicheren Abstand hält von plakativem Effekt. Ins Innere des Hörers zielt sie damit umso mehr, was durchaus schmerzhaft sein kann. Über die musikalischen Werkzeuge für Suspense weiß die Komponistin gleichwohl gut Bescheid: Glissandi, Vierteltonreibungen, jähe Klangblitze, leblos daliegende Streicherflächen. In der dosierten Anwendung zeigt sich jedoch eine Künstlerin, die unter der «Verkleidung» als Thriller vor allem darstellen möchte, wie Schuld Kreise zieht – wie ein Stein, der ins Wasser fällt.
Eigentlich ist alles angerichtet für eine Hochzeit, doch nach und nach eröffnet sich der Braut ein mosaikartiges Bild über die Familie, in die sie einheiraten soll. Der Bruder des Bräutigams war der Attentäter, im Schweigen über seine Schuld macht sich die Familie selbst schuldig der Braut gegenüber. Noch komplexer wird die Frage nach dieser Schuld, wenn der Bräutigam plötzlich zugibt («Öffne dein Herz!», rät der Pastor), selbst an der Vorbereitung des Massakers beteiligt gewesen zu sein, und dass er eigentlich selbst mitmachen wollte – aus Liebe zu seinem Bruder, der von den Mitschülerinnen und Mitschülern zuvor böse gedemütigt worden war. Sie hatten den späteren Mörder gezwungen, sich auszuziehen, und die Handyvideos davon im Netz veröffentlicht. Ganz ohne Schuld sind auch die Opfer nicht. Lässt sich ihre Schuld gegen jene des Mörders aufrechnen? Eine Antwort auf diese Frage liefert das Stück nicht. Ebensowenig versucht es sich in Erklärungen, woher die Wut von Jugendlichen stammt, die zur Waffe greifen. Stattdessen wird der Fall mit einer dokumentarisch anmutenden Klarheit präsentiert. Zwei Ebenen stehen sich gegenüber, die schließlich ineinander aufgehen: die der Hochzeit, die in Dresden im Stil einer gesicherten Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts gefeiert wird (für Zylinder und Fräcke sorgt Kostümbildnerin Annette Braun), und jene der Traumatisierten und Untoten, die frierend durch eine Winterlandschaft ziehen. Wie Erinnerungen an die böse Vergangenheit tauchen auf Paul Zollers Bühne einige Schülerpulte aus dem Schnee auf. Nach und nach wird die Vorgeschichte erzählt, die für die Hochzeitsgesellschaft zur schlimmen Offenbarung wird. Die Vergangenheit schiebt sich allmählich über die Gegenwart, entsprechend greift die Schneelandschaft immer stärker Raum. Bis schließlich alle als irgendwie Schuldige im Schnee sitzen: die Braut, die einen Beinahe-Mörder geheiratet hat (von Rosalie Cid mit vögleinleichtem Sopran gesungen), der Bräutigam (mit hinreißend lyrischem Tenor: Mario Lerchenberger), der Vater (Benedict Nelson bringt ihn als Patriarchen auf die Bühne, dem nichts Weltliches fremd ist), Markétas Mutter (Paula Murrihy mit der ganzen Angekratztheit der labilen Figur, die sie darstellt), Markéta selbst (Venla Ilona Blom, die mit Techniken des finnischen Volksgesangs von der Exotik des Totenreiches erzählt, aber auch vom Frieden der Natur). Umgeben sind sie von einer Nervenmusik, die die Sächsische Staatskapelle unter Maxime Pascals Leitung mit großer Präzision und Klarheit spielt, dankbar für die kammermusikalische Machart, die Saariahos äußerst genau disponiertes Werk durchzieht.
Die Wirkung auf das Publikum ist enorm: Nach der Uraufführung in Aix-en-Provence, einer Nachfolgeproduktion am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen im vergangenen Herbst, scheint «Innocence» spätestens mit dem Dresdener Abend auf dem Weg zu einem Klassiker der Moderne zu sein. Semperoper-Intendantin Nora Schmid hat derweil das nächste zeitgenössische Schneestück aus dem hohen Norden aufs Programm gesetzt: «The Snow Queen» nach dem Märchen von Hans Christian Andersen. Das Bühnenwerk des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen, 2019 in Kopenhagen uraufgeführt und im Anschluss auch an der Bayerischen Staatsoper in München gezeigt, wird im Dezember Premiere haben.
Saariaho: Innocence
DRESDEN | SEMPEROPER Premiere: 15., besuchte Vorstellung: 31. März 2025
Musikalische Leitung: Maxime Pascal
Inszenierung: Lorenzo Fioroni
Bühne und Video: Paul Zoller
Kostüme: Annette Braun
Licht: Fabio Antoci
Chor: Jonathan Becker
Solisten: Paula Murrihy (Kellnerin), Rosalia Cid (Braut), Mario Lerchenberger (Bräutigam), Anu Komsi (Mutter), Benedict Nelson (Vater), Timo Riihonen (Priester), Venla Ilona Blom (Markéta) u. a.
www.semperoper.de

Opernwelt Mai 2025
Rubrik: Im Focus, Seite 24
von Clemens Haustein
Die Greek National Opera bringt im Großen Saal ihres architektonisch wunderbaren Renzo-Piano-Baus regelmäßig die großen Repertoirestücke heraus. Direkt nebenan gibt es mit der «Alternative Stage» eine weitere Spielstätte für rund 500 Gäste; der multifunktionale Raum ist wohl einer der wenigen Orte überhaupt, wo es möglich ist, pro Spielzeit vier neue Bühnenwerke zu präsentieren. Nun kam...
ML = Musikalische Leitung I = Inszenierung B = Bühnenbild K = Kostüme C = Chor S = Solisten P = Premiere UA = Uraufführung
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- Montsalvatge, Der gestiefelte...
Der Teufel mag es ungebärdig und ein wenig billig. Das ist seine Welt, da kennt er sich aus. Er mag den Zinnober, zündet Flämmchen an und hetzt die Masse auf, in der Hölle nur noch das Wort «Hass» zu skandieren. Ein schlimmes Wort, das hier noch gefährlicher zischt als sonst schon. Ein Tierlaut – sieht man davon ab, dass Tiere nicht hassen. In einer der schönsten Szenen des Abends greift...