Multiple Ströme
Europa hat ausgedient. Die blaue Sternenflagge taugt nur mehr als Tischtuch, als Unterlage für fettige Pommes und ein Sixpack Bier. Hamlet und Ophelia sitzen, mampfen und würgen. Zu sagen haben sie sich nichts, das Angebot von früher – «Lass mich dein Herz essen, Ophelia» – interessiert nicht mehr. Die Geschichte: ein Schlachtfeld. Der Mensch: verloren in Trümmern. Die umhertänzelnden Schreienden tun, was ihr Name ihnen aufträgt. Dann bleibt Ophelia allein, das Rolltor hat sich vor dem riesigen stahlgrauen Schiffsinneren, dieser Fähre vom Leben ins Nirgendwo, gesenkt.
«In allen Sprachen heißt die Zukunft Tod», so steht es in Heiner Müllers spätem Gedicht «Besuch beim älteren Staatsmann». In diesem letzten Moment singt Ophelia die enigmatischen Worte: «Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.»
Ihr Sopran durchzackt dabei das Notenliniensystem. Bei «Wahrheit» geht es zum hohen B, das sich zum H aufbiegt, worauf die Stimme eine Dezime hinabstürzt. Mit dem letzten Wort «wissen» steigt sie wieder aufs dreigestrichene C, fasst Atem und springt auf das tiefe H. Ganz allein, das Orchester schweigt. Mit allerletzter Kraft presst die Stimme ...
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Opernwelt März 2016
Rubrik: Im Focus, Seite 10
von Götz Thieme
Klaus-Peter Kehr war der Erste. Der Mannheimer Opernintendant hatte die emotionale Tiefe, den glühenden Klang, das brillante Theaterhandwerk Mieczyslaw Weinbergs schon erkannt, als der polnisch-russische Komponist im westlichen Musikbetrieb noch ein unbeschriebenes Blatt war. Und sich für sein Haus gleich dessen opus summum, die 1986 abgeschlossene, aber in ihrer...
Die erste Tosca der New York City Opera war ein echter Star: Als die Company 1944 mit Puccinis vor 116 Jahren in Rom uraufgeführtem Bestseller ihre erste Produktion zeigte, sang Dusolina Giannini die Titelpartie. Als people’s opera konzipiert, pflegte man in den folgenden Jahrzehnten freilich vor allem ein Repertoire, das die Metropolitan Opera nicht auf dem Schirm...
Die Ponys hören zu. Erst eines. Ein Ganzton, dann ein Halbton aufwärts, lange und leise gehalten. Dann kommen fünf weitere dazu, schmiegen sich unter die Gesangsphrase ihres Herrn. Jedes hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene triolische Bewegung, seine eigene chromatische Linie. Alle sind genau in der Partitur notiert, im Bassschlüssel. Sechs Ponys, das sind...