Kabale und Triebe

Das Bayreuth Baroque Opera Festival punktet mit Händels «Flavio» und Monteverdis «L’Orfeo» sowie herausragenden Sängerinnen und Sängern

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Einer der besterhaltenen Theaterbauten des 18. Jahrhunderts, prachtverliebt und doch geschmackvoll, riesig für seine Zeit und zugleich intim, leuchtend in Blau und Gold und dennoch aus Holz, Zeichen höfischer Eitelkeiten wie des Bewusstseins für Vergänglichkeit – das ist das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth. Es war der 1748 von Markgräfin Wilhelmine eröffnete Bau, der Richard Wagner in die fränkische Provinz lockte, wo er das Festkonzert zur Grundsteinlegung des eigenen Festspielhauses dirigierte und dessen Bedeutung er, wie so vieles, aus der Musikgeschichte verdrängen sollte.

Wo Richard war, blieb kein Raum mehr für eine kunstsinnige Markgräfin, ihr Opernhaus Nebenziel für Wagnerianer an freien Festspieltagen, beliebt für CD-Aufnahmen wegen seiner hervorragenden Akustik, aber mit vereinzelten Aufführungen ohne Ausstrahlung über das zumeist selig vor sich hinträumende Bayreuth hinaus.

Doch das hat sich deutlich zu ändern begonnen, seit das Theater zwischen 2012 und 2018 restauriert wurde. Mit dem neuen Theatermuseum, das seit April dieses Jahres eine ebenso informative wie verspielte Dauerausstellung zeigt, vor allem aber mit dem Bayreuth Baroque Opera Festival, das Max Emanuel Cenčić hier 2020 begründet hat. Katharina Wagner, die Leiterin von Richards Festspielen, hatte nicht nur die Chance verschlafen, sich eine zweite Spielstätte zu verschaffen, sondern im Corona-Jahr auch noch in vorauseilendem Gehorsam ihre erste geschlossen. Max Emanuel Cenčić dagegen, bislang schon als Countertenor, Regisseur, Agenturchef und Produzent ausgesprochen umtriebig, überzeugte nicht nur die Stadt Bayreuth und die Denkmalschützer mit seinem Konzept, sondern eröffnete auch trotz Corona-Einschränkungen. Seitdem zieht das Festival jeden September, aufmerksamkeitstechnisch geschickt direkt nach den Wagner-Festspielen, erneut ein internationales Publikum nach Bayreuth. Und das nicht mit den zehn immer gleichen Werken wie am Hügel, sondern mit Raritäten aus der Epoche der Markgräfin, die ja auch die Hochzeit der Opera seria war. Von der Eröffnungspremiere dieses Jahres, Händels «Flavio, Re de' Longobardi», sind alle vier Vorstellungen bereits drei Monate im Voraus ausverkauft. Dabei gehört die Geschichte rund um den titelgebenden Langobardenkönig ebenfalls zu Händels kaum je gespielten Opern: keine echte Seria, sondern ein Gattungszwitter eigenen Charakters, im Grundkonflikt angelehnt an Corneilles Tragikomödie «Le Cid». König Flavio entsendet einen Höfling nach England, um dessen hübsche Tochter für sich beziehungsweise für sein Bett zu haben. Damit erregt er den Neid eines anderen Höflings, dessen Tochter Emilia eigentlich den Sohn des ersten, genannt Guido, heiraten wollte. Im Ehrenhandel der Väter ermordet Guido den Vater seiner Braut.

Cenčić entdeckt als Regisseur darin eine «scharfe Satire gegen den katholischen Absolutismus» – eine auf Zeitereignisse anspielende Abrechnung Händels und seines Librettisten Nicola Francesco Haym mit den englischen Königen Charles II. und James II. Weshalb die Inszenierung ein satirisches Panoptikum höfischen Lebens unter einem dekadenten Herrscher zur Händel-Zeit entfaltet. Zusätzlich zum sängerischen Personal hat Cenčić dafür 16 (!) Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert, mit denen er individuell gestaltete stumme Rollen schafft. Die historische Bildung gehört ebenso zu Cenčićs Markenzeichen wie ein Hang zur Üppigkeit, der zum Spielort passt und den die raffiniert historischen Kostüme von Corina Grămoşteanu erfüllen.

Dennoch bleibt die Grundthese heikel, schon weil das Libretto auf einer deutlich älteren Vorlage beruht – und die Inszenierung damit auch. Denn unter all den scharf gezeichneten Karikaturen versinkt die eigentlich schlichte Geschichte, hinter der lustvoll und mit viel Sex auf -wartenden Chronique scandaleuse das Tragische an der Tragikomödie. Cenčić selbst singt Guido mit einem Alt, der in den vergangenen Jahren an dunkel betörendem Glanz eher noch gewonnen hat, Julia Lezhneva ist ihm als Emilia eine glänzende Partnerin. Mit schwebendem, dennoch farbintensiv schillerndem Sopran verwandelt sie kleinste Noten in Preziosen, Koloraturen in Perlenketten, ihre umfangreichen Kadenzen in staunenswerte Momente sängerischer Freiheit. Doch Lezhneva weiß ihrer Figur auch zunehmende emotionale Tiefe zu geben, obwohl sie sich den Raum dafür nicht nur bei der Regie, sondern stärker noch beim Dirigat erkämpfen muss. Benjamin Bayl verfällt der Untugend schwächerer Barockdirigenten, vor allem die rhythmischen Konturen zu betonen und die melodischen wie klanglichen damit zu «überfahren». Den kraftvollen Drive liefert das Concerto Köln natürlich, könnte aber hörbar mehr. Seltsam, dass Cenčić nicht die Zusammenarbeit mit Martyna Pastuszka und ihrem {oh!} Orkiestra fortgesetzt hat, die 2022 seine Inszenierung von Leonardo Vincis «Alessandro nell’Indie» musikalisch zum Funkeln brachten. In diesem Jahr ist das polnische Ensemble immerhin in einem Arienabend mit dem Countertenor Valer Sabadus zu hören.

Dass Cenčić Konkurrenz auch auf dem eigenen stimmlichen Territorium nicht nur duldet, sondern fördert, gehört zu seinen Stärken als Produzent wie als Festivalleiter. Im «Flavio» agiert neben ihm der sängerisch bestechend kristalline Yuriy Mynenko (darstellerisch fremdelt er allerdings eher mit dem Höfling Vitige). Das gesamte, elftägige Festival bietet fast schon ein Schaulaufen auf dem immer breiteren Grat der höchsten Männerstimmen. Neben Sabadus geben Reginald Mobley, Maayan Licht, Bruno de Sá und Dennis Orellana Arienabende an Spielstätten, die sich der umfangreichen Bautätigkeit der Markgräfin verdanken.

Als internationale Größen nicht nur des Barockfachs kommen Véronique Gens und Daniel Behle hinzu, und Rolando Villazón lockt mit seinem Namen ein noch breiteres Publikum ins Markgräfliche Opernhaus. Er verkörpert die Titelrolle in einer Gastproduktion von Claudio Monteverdis «L’Orfeo», mit dem Cenčić erstmals einen zweiten vollszenischen Abend ins Programm nimmt. Entstanden für das Athener Konzerthaus Megaron, erweitert der griechische Komponist Panos Iliopoulos die Partitur Monteverdis (beziehungsweise deren überliefertes Gerüst) mit elektronischen Sounds, kombiniert das Originalklangensemble Latinitas Nostra mit E-Gitarre, E-Bass, Percussion und allerlei Effekten. Was auf dem Papier spannend klingt, entpuppt sich unter dem Dirigat des konzeptionell verantwortlichen Markellos Chryssicos jedoch als zähe, in sich kaum variierende Klangmasse von bleiernem Pathos. Der mikroportbewehrte Villazón stürzt sich mit der ihm eigenen Emphase und großen, eher veristisch inspirierten Stimmgesten in die lautstarken Fluten, kann aber allein dem langsamen Grundtempo keine dauerhafte Spannung abringen. Auch bei «Bayreuth Baroque» ist also nicht alles Gold, was glänzt, sondern manches einfach nur Holz.

Dass Cenčić mit seinem Festival deswegen insgesamt auf dem nämlichen Weg sei, lässt sich nun wahrlich nicht behaupten.

BAYREUTH BAROQUE OPERA FESTIVAL | MARKGRÄFLICHES OPERNHAUS Händel: Flavio, re de’Longobardi
Premiere: 7. September 2023
Musikalische Leitung: Benjamin Bayl
Inszenierung: Max Emanuel Cenčić
Bühne: Helmut Stürmer
Kostüme: Corina Grămoşteanu
Licht: Romain De Lagarde
Solisten: Julia Lezhneva (Emilia), Max Emanuel Cenčić (Guido), Yuriy Mynenko (Vitige), Monika Jägerová (Teodata), Rémy Brès-Feuillet (Flavio), Sreten Manojlovic (Lotario), Fabio Trümpy (Ugone), Filippa Kaye (Hofdame); Darsteller: Eirini Petraki (Die Königin), Elena Eleftheriou (Mutter Oberin), Dmitri Rekatchevski (Haushofmeister), Marina Tsapekou (Frau des Hofmeisters), Dafni Markaki (Ugones Frau), Evi Cherouvim (Lotarios Frau), Christos Billas (Der Priester), Dimitris Tsikouras (Der Arzt), Konstantina Raikou (Hofdame), Christos Doulas, Anestis Ischnopoulos, Argyrios Marinis, Emmanouil Papadomanolakis, Athanasios Papadopoulos (Pagen), Mick Morris Mehnert (Ein Zwerg)

Monteverdi: L’Orfeo
Premiere: 12. September 2023
Musikalische Leitung: Markellos Chryssicos
Inszenierung: Thanos Papakonstantinou
Bühne und Kostüme: Niki Psyhogiu
Licht: Christina Thanasoula
Live-Elektronik, Arrangements: Panos Iliopoulos
Choreografie: Nadi Gogoulou
Solisten: Rolando Villazón (Orfeo), Theodora Baka (Musica), Yannis Filias (Pastore), Irini Bilini (Ninfa), Myrsini Margariti (Euridice), Sophia Patsi (Messagiera), Lenia Safiropoulou (Speranza), Marios Sarantidis (Caronte), Maria Palaska (Proserpina), Timos Sirlantzis (Plutone), Savina Yannatou (Baccante) 
www.bayreuth-baroque.de


Opernwelt November 2023
Rubrik: Im Focus, Seite 4
von Michael Stallknecht

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