Der Reiz des Fremden
ZUKUNFTS MUSIK
Das «unmögliche Kunstwerk» Oper lebt, allen Unkenrufen zum Trotz. Als Beleg mögen abseits der Pflege des kanonischen Repertoires auch und vor allem jene Stücke dienen, die sich mit der Tradition der Gattung auseinandersetzen, dabei aber neue Wege beschreiten. Um solche musiktheatrale Schöpfungen soll es in dieser Rubrik gehen: um Uraufführungen, in denen neue Narrative kreiert werden und die Form selbst auf dem Prüfstand steht, zugleich aber auch jene Rezeption befragt wird, die sich mit der Wiederholung überlieferter Deutungsmuster begnügt. Zu Wort kommen Komponistinnen und Komponisten, Dramaturginnen und Dramaturgen, Dirigentinnen und Dirigenten.
Es ist ein altes Lied im Opernkanon: Die Frau, die zu stark ist, wird entweder brutal ermordet, begeht Selbstmord, tanzt in den Wahnsinn oder löst sich anders tragisch auf. Was zu stark ist, muss zerstört werden, um die alte Ordnung wiederherzustellen. Und dies ist nicht das einzige Problem: Um den Ausstattungswert zu erhöhen, wird die Handlung oft in märchenhafter Ferne angesiedelt, im Orient beispielsweise, in Indien, im Kirschblüten-Japan ...
Die Rede ist vom «problematischen» Repertoire und der Gretchen-Frage: Wie ist nach #metoo und Kolonialismus-Awareness mit rassistischen, sexistischen und kolonialistischen Stoffen umzugehen? In Hannover wagt man das Experiment mit einer Uraufführung. Mit Olivia Hyunsin Kim hat sich die Staatsoper den Blick der Freien Szene eingeladen. Kim wählte sich als Objekt ihrer Arbeit Puccinis «Turandot» – jene Oper, in der zu wunderschönen pseudo-chinesischen Klängen im Märchen-China längst vergangener Zeit eine Prinzessin das Unmögliche wagt: keinen Mann zu wollen. Und zum Schluss, Puccinis Skizzen zufolge, durch einen Nötigungs-Kuss «auf Kurs» gebracht wird, während sich wenige Minuten zuvor eine aufopferungsvolle Sklavin für den sie nicht ...
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Opernwelt November 2023
Rubrik: Magazin, Seite 79
von Katharina Schellenberg
Die Freundschaft von David und Jonathan, dem Sohn König Sauls, besitzt nicht erst in Charpentiers biblischer Oper aus dem Jahr 1688, sondern schon im Alten Testament einen erotischen Unterton. Der Regisseur Marshall Pynkoski beließ es im November 2022 in der Chapelle Royale von Versailles nicht bei der Andeutung, sondern zeigte das Coming-out der Männerliebe in...
Die «Ära Mahler» an der Wiener Hofoper, die von 1897 bis 1907 dauerte, gilt nicht nur als nie wieder erreichte Glanzzeit des Hauses, sondern war zugleich ein Meilenstein der Theatergeschichte. Dabei beschränkte sich Mahlers Rolle keinesfalls auf die Ausstrahlung als Dirigent. Gerade als Direktor und Regisseur – Funktionen, die in der Mahler-Biografik stets in den...
Untot, tot oder doch nur totgesagt? Lange hat sich die Operette in den Spielplänen wacker gehalten, brachte Quote und lockte ein Publikum in das Theater, dem Oper zu schwer und das zeitgenössische Musical zu modern war – weil sie ein Bedürfnis nach Eskapismus stillte. Sie war Prototyp einer frühen Popkultur, sprach sogar lange eine jüngere Generation an. Doch die...