Die Zauberin

Sie war Salome in Hamburg, Turandot in Wien, Lisa in München. Und keinen Zweifel konnte es geben, dass Asmik Grigorian für diese Rollenporträts erneut zur «Sängerin des Jahres» gekürt werden würde. Ein Porträt

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Salzburger Festspiele 2024, Premiere von Sergej Prokofjews Oper «Der Spieler». Peter Sellars inszeniert die pausenlosen zwei Stunden der Aufführung in der Felsenreitschule. Das heißt: extreme Breitwandbühne. Ziemlich kompliziert, dort glaubhafte Beziehungen zwischen den Figuren herzustellen. Was dann eben auch nicht passiert. Ein paar seltsame Ufos stehen und schweben herum, sollen an Roulette-Tische erinnern, was sie nicht tun, eher wirken sie wie blinkender Las-Vegas-Klimbim.

Sean Panikkar ackert sich durch die Rolle des Alexej, der alles verspielt und am Ende doch noch völlig irre im Spiel gewinnt, aber da ist es schon zu spät. Da will Polina ihn nicht mehr. Vermutlich wollte sie ihn nie. Lieber den reichen Marquis, mit dem es auch zu einer seltsamen SM-Begegnung kommt. Vielleicht verprügelt er sie auch einfach, weil er ihr nicht Herr wird und keinen anderen Ausweg weiß. So genau weiß man das nicht, die Szene findet hinten im Halbdunkel statt. Aber eines ist sicher: Macht wird er über Polina nie haben. Denn Asmik Grigorian singt und spielt diese Polina.

Kein Salzburger Festspiel-Sommer ohne Grigorian. Hier hatte sie schon 2017 das Publikum für sich eingenommen, als Marie in Alban Bergs «Wozzeck» (Regie führte William Kentridge, es dirigierte Vladimir Jurowski); und hier errang sie ein Jahr später Weltruhm, als sie die Titelrolle in Strauss’ «Salome» sang. Franz Welser-Möst hatte sein Dirigieren ganz auf sie und ihre Stimme abgestimmt, der Regisseur Romeo Castellucci kniete beim Schlussapplaus vor ihr nieder, Salzburg hatte eine neue Königin, die auch und vor allem eine Königin der Schmerzen und der abgründigsten Seelenzustände war. Das alles ist ja längst Legende, inzwischen hat Grigorian mit Markus Hinterhäuser, dem Intendanten der Salzburger Festspiele, Strauss’ «Vier letzte Lieder» aufgenommen. Den Klavierfassungen stellt sie auf der CD auch die für Orchester gegenüber; ihre Partner hier sind Mikko Franck und das Orchestre Philharmonique de Radio France. Das ist alles wundervoll ausgestaltet, aber gerade in der Kommunikation mit Hinterhäusers Klavierspiel offenbart sich die ganze Poesie ihrer aus einer glühenden Introspektion herausgewölbten Unabdingbarkeit.

Aber zurück zur Salzburger Polina, eine Partie, die Asmik Grigorian schon 2018 am Theater Basel verkörpert hatte. So viel zu tun hat sie gar nicht in dieser Rolle, aber sie ist fast immer da, steht fast immer im Fokus, selbst wenn sie nichts macht. Sie steht im Hintergrund herum in einer Hose und einem seltsamen T-Shirt, als wolle sie schnell noch irgendetwas reparieren. Was man ihr sofort und in jeder weiteren Sekunde zutraut. Sie spielt das einzig selbstbestimmte Wesen an diesem Abend. Ja, auch ihre Polina kennt die Gier nach Geld, aber eigentlich verachtet sie es. Grigorians grandioses Hohngelächter, wenn auf einmal die alte Ahnherrin auftaucht und klar macht, dass erst einmal niemand aus ihrer überschuldeten Familie, die sich in Roulettenburg (dem fiktiven Spielort der Oper) heillos verzockt hat, irgendetwas erben wird, zeigt allein schon Polinas Überlegenheit. Die sie weiter ausbaut, mit ihrer jederzeit alle mit kühlem Glanz überstrahlenden Stimme. Um sie herum mühen sich viele ab, agieren aufgescheucht, rasen haltlos. Und doch schaut man meist auf Grigorian, auch wenn sie gar nichts macht und keinen einzigen Ton singt. Am Ende applaudiert sie den Kollegen, patscht in die Hände wie ein zwölfjähriges Mädchen, freut sich.

Mittlerweile beherrscht Asmik Grigorian, geboren 1981 in Vilnius (ihr Vater war der armenische Tenor Gegham Grigorjan, ihre Mutter ist die litauische Sopranistin und Professorin Irena Milkevičiūtė), mehr als 80 Partien, darunter auch einige eher aus den Randbereichen des Repertoires. So konnte man über die Jahre viele einzigartige Grigorian-Momente sammeln. Jüngst etwa ihren Liederabend bei den Münchner Opernfestspielen, Lieder von Tschaikowsky und Rachmaninow, am Klavier saß Lukas Geniušas, der sie auch schon bei der grandiosen Aufnahme mit Rachmaninow-Liedern von 2022 begleitet hatte. Es sind mehrheitlich Nachtschatten-Stücke, die Grigorian ausgewählt hat. Auch wenn etwa Tschaikowsky die Erinnerung an einen Ball vertont, so bleibt dies eben Erinnerung, wird nicht opulentes Balltreiben. Da schwebt Grigorians Stimme immer wieder schwerelos über den Dingen; detailliert arbeitet sie Nuancen der Farb -gestaltung heraus, sehr genau am russischen Text. Der Gehalt jedes einzelnen Liedes wird plastisch erfahrbar. Grigorian macht aus jedem Stück ein Erlebnis, auch wenn sich bei Rachmaninow die kompositorische Struktur andauernd wiederholt. Grandios ist es dennoch, dunkel schönheitstrunken, ergreifend.

Weiter zurück, nach Frankfurt. Bernd Loebe, Intendant der dortigen Oper und berühmt für sein Gespür für Stimmen, hatte sehr früh Grigorians einzigartige Gabe erkannt und sie deshalb mit einem Vorlauf von Jahren engagiert, lange Zeit vor dem «Salome»-Urknall. Die Sängerin selbst sagte einmal, Frankfurt habe ihr geholfen, das zu werden, was sie ist. Und so bleibt sie dem Haus treu, auch wenn sie selbst in einer Publikation der «Freunde der Salzburger Festspiele» sagt, nach dem Erfolg in Salzburg könne sie woanders das Vierfache verdienen (was für Loebes Haus allerdings nicht gilt). Sie wolle fair bleiben und dafür respektiert werden. Also sang sie am Main vor eineinhalb Jahren die Hauptrolle in Tschaikowskys «Zauberin». Erst seit gut zehn Jahren wird die 1887 nach mühevollen Umarbeitungen durch den Komponisten uraufgeführte Oper allmählich auch außerhalb Russlands bekannt; nach der Neuinszenierung an der Oper Frankfurt spricht – auch dank Grigorian – überhaupt nichts mehr dagegen, dass das Stück nicht einen Siegeszug anträte.

Im Kern geht es darin um die Antagonie von Volk und Obrigkeit, von Freiheit und strengster Ordnung. Nastasja, die «Zauberin», betreibt außerhalb der Stadt eine Kneipe, in der es lustig zugeht, der Fürst will zusammen mit seinem eilfertigen Verwalter dem unkontrollierten Treiben Einhalt gebieten. Doch er verliebt sich in die Wirtin. Die aber begehrt seinen Sohn, der Prinz ist begeistert und will mit ihr fliehen, doch dann schlägt die Eifersucht zu: Die Fürstin vergiftet Nastasja, der Fürst bringt seinen Sohn und in Frankfurt auch gleich noch seine Gattin um. Nur sich selbst zu töten, das schafft er nicht.

Vasily Barkhatov, eine Art russischer Wunderknabe der Opernregie und im privaten Leben Grigorians Ex-Ehemann, hat ein untrügliches Gespür fürs Geschichtenerzählen; in der Mitte steht, für alles und alle der Bezugspunkt, Asmik Grigorian. Man kann den Titel der Oper auch mit «Die Bezaubernde» übersetzen, dann weiß man, was Grigorian macht. Ihr Anderssein ist warme Menschlichkeit, ihr sängerdarstellerischer Instinkt reines Wunder bis ins Detail der kleinsten Geste, der unscheinbarsten Phrase. Das System vernichtet den reinsten, schönsten, leuchtendsten, strahlendsten Menschen.

In Frankfurt sang Asmik Grigorian drei Jahre vor der «Zauberin» auch Puccinis Manon Lescaut. Vielleicht noch stärker als bei ihrer Salome konnte man da auf der Opernbühne erleben, dass Gesang jede Anmutung von etwas Hergestelltem, Arti -fiziellem verlieren kann. Dann findet er einfach statt, mit allergrößter Selbstverständlichkeit, braucht keine ausgestellten Gesten. Braucht auch kein Heraustreten aus der Figur, etwa wenn es gilt, irgendeine Arie um ihrer selbst willen zu schmettern und dabei jede Wahrhaftigkeit der Symbiose zwischen Spiel und Gesang verlorengeht. Mit der Titelpartie in «Manon Lescaut» gelang Asmik Grigorian genau das. Was sie darin machte, war ein Glücksfall für die Kunstform Oper, denn sie nahm dieser Kunstform jede Künstlichkeit. Sie spielte die Manon vollkommen überzeugend als ein 16-jähriges Mädchen, gekleidet im üblen Osteuropa-Chic. Diese Manon wusste über das Leben Bescheid, das merkte man sofort, im Nachtclub genauso wie im Arrest, wo sie die Wächter und den rasenden Geliebten mit blitzenden Augen zu beschwichtigen suchte. Ihre natürliche Präsenz rückte sie von ganz allein in den Fokus, sie musste gar nicht mehr viel machen, nur da sein und singen. Mit purer Mühelosigkeit und dramatischer Wucht.

Nach all diesen Erlebnissen mit Asmik Grigorian, die man beliebig noch fortsetzen könnte und die jeder individuell anders erzählen würde, ergab sich das Glück eines Gesprächs, wirklich ein Glück, denn Marketing in eigener Sache interessiert sie eher nicht (was definitiv für sie spricht). Das war im Vorfeld der Premiere von Tschaikowskys «Pique Dame» an der Bayerischen Staatsoper, sie sang darin die Lisa mit strahlender Nachhaltigkeit, in der sich Erotik, Erlösung, Freiheit und Jubel verbanden, sang ihre sehnsüchtig aufsteigenden Töne so, dass sie mühelos beglaubigte, dass diese Lisa aus ihrem Leben unbedingt ausbrechen will.

Doch zuvor wollte man wissen, wie sie das, was sie macht, hinbekommt, wie sie diese Wahrhaftigkeit erzeugen kann. Oder besser: diese Wahrheit. Beim Treffen stellte ihr eine Assistentin vom Haus erst einmal einen Schnaps hin, denn Grigorian war gerade sehr bayerisch essen gewesen, da braucht man schon mal was zur Verdauung. Das Allerverrückteste war dann, dass man ihr, ohne ihr je zuvor jenseits der Bühne begegnet zu sein, die erste, seltsame, völlig aus irgendeinem Zusammenhang gerissene Frage stellte und sie sofort so verstand, wie sie gemeint war. Die Frage lautete: «Was ist Ihr Trick?» Die Antwort: «Ich denke nicht nach.» Damit war alles klar. Natürlich ist sie nicht die einzige großartige Sängerin, die den Eindruck vermittelt, sie spiele nicht, sondern sie sei einfach die Figur, in der entsprechenden Situation. Eigentlich hat das, und das ist in der künstlichsten aller Kunstformen verblüffend, fast schon performativen Charakter. Wäre es halt nicht doch eine Lisa, eine Turandot, eine Salome, die da auf der Bühne steht und eben nicht sie selbst für sich selbst. Asmik Grigorian platziert sich in die Situation. Das heißt nicht, dass sie in dieser spielt. Die Künstlerin sieht darin keine Notwendigkeit. Sie sagt: «Ich bringe mich selbst in der Situation zum Ausdruck. Wenn ich müde bin oder unkonzentriert, dann spiele ich. Wenn ich das aber nicht tun muss, dann gibt es dieses wunderbare Gefühl, hundertprozentig auf der Bühne präsent zu sein und im selben Moment die Situation von außen zu betrachten. Dann muss man nichts mehr tun, alles passiert von allein.»

Und so geht es weiter: «Ich habe nie versucht, eine Turandot zu sein oder eine Salome. Ich benutze die Rolle und die Musik, um mich selbst auszudrücken, meine Nöte, mein Leben. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was Puccini mit Turandot wollte oder Strauss mit der Salome. Und schon gar nicht wissen wir, was diese Komponisten tun würden, lebten sie heute.» Gleiches gilt für Inszenierungen, die sie «Kostümopern» nennt, die also versuchen, irgendwie so zu tun, als ahme man eine Aufführung aus der Entstehungszeit eines Stücks nach. «Wir haben doch keine Ahnung von all dem Kram, den die damals benutzten.»

Also macht Grigorian die Geschichten der Figuren zu ihren eigenen, stets mit dem Wissen, natürlich eine ganze andere Person zu sein. Sie habe den Job über Jahre gelernt, jetzt sei sie in der Lage, ihn auszuüben. «Ich bin die Mutter zweier Kinder», sagt Grigorian, und dass sie mit 21 zum ersten Mal Mutter wurde, sei doch viel schöner, als zu hinterfragen, welche Rolle sie mag oder welche nicht oder welche passt. «Ich habe schon ein wenig Lebenserfahrung, von Natur her habe ich diese Fähigkeiten zur Emotion in mir. Wir wurden in Zeiten geboren, in denen uns erzählt wurde, wir müssten unsere Gefühle in eine Schachtel packen und verstecken. Wir leben in Zeiten der Sitten und Manieren.» Für die Dauer einer Aufführung aber geht die Schachtel auf. Wobei: Bei ihr vermutlich nicht nur für die zwei, drei Stunden hochemotionalen Singens am Abend. Zu ihrer Tochter kehrt sie aber stets als Asmik heim. Die Rolle bleibt da, wo sie hingehört.

Asmik Grigorian eifert keiner anderen Sängerin nach, will nicht so sein wie … wer auch immer. Vermutlich wäre sie gar nicht imstande, eine Sängerin zu nennen, die für sie ein Vorbild wäre; Idole interessieren sie kaum. Außerdem verändert sie selbst sich ja permanent. Die damals so herausragende Salome kann sie vermutlich heute gar nicht mehr so singen wie 2018, aber sie kann sie anders singen, mit ihren persönlichen Veränderungen in den vergangenen sechs Jahren. Könnte sie die Partie, die Darstellung einfach so identisch wiederholen, sie hätte nichts mehr mit ihr zu tun, weil sie ja eine andere geworden ist. Asmik Grigorian spielt ja eben nicht – bei ihr gibt es keine artifiziellen Reproduktionen.

Vielleicht passt die Polina im Salzburger «Spieler» gerade deswegen wirklich sehr gut zu ihr. Polina beobachtet das Rasen der anderen, deren Gier, sie ist Teil davon, hält sich aber am Rand und zurück, bleibt skeptisch. Am wohlsten, sagt Asmik Grigorian, fühle sie sich, wenn es unaufgeregt zugehe auf der Bühne. «Meine besten Aufführungen sind die, in denen ich so ruhig bin, dass ich nicht die Dinge störe, die passieren müssen. Ich fühle mich dann so, als würde ich nur erlauben, dass die Dinge passieren. Das ist magisch in diesem hochprofessionalisierten Betrieb. Und es passiert nicht so häufig. Aber es passiert.»

Asmik Grigorian würde nie etwas unternehmen, nur um ihre Karriere voranzutreiben (das tun ja ohnehin andere schon für sie). Engagements sagt die Litauerin schon mal ab, wenn die künstlerische Konstellation nicht passt. Menschen, mit denen sie arbeitet, sind ihr wichtiger als berühmte Orte, an denen sie auftreten könnte. Wenn die Umstände und eben die Menschen, mit denen sie arbeitet, passen, kann sie sogar auf der Straße tanzen. Vor verrückten Regisseuren hat sie keine Angst, verrückt sei sie selbst genug, Furcht sei da fehl am Platz. «Und was heißt schon verrückt? Ich empfand das Attribut immer als Kompliment.» Über sich selbst sagt Asmik Grigorian (und das meint sie wirklich ernst), sie tauge nicht zum Star. Einem Star ginge es nur um sich. Star ist sie ohnehin von ganz allein. Das Schönste daran: Sie muss längst nicht mehr mit Menschen zusammenarbeiten, die sie nicht mag. Doch wenn man sie auf der Bühne der Felsenreitschule sieht, nach der Premiere, so losgelöst, so befreit und so zugeneigt, hat man das Gefühl, dass es nicht gar so viele Menschen gibt, auf die das zutreffen könnte.


Opernwelt Jahrbuch 2024
Rubrik: Sängerin des Jahres, Seite 16
von Egbert Tholl

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