Ein Helden(tenor)leben

Mitte April feierte er seinen 84. Geburtstag. Doch Zeit, um sich zur Ruhe zu setzen, findet Siegfried Jerusalem nach wie vor nicht. Zu groß sind für ihn die Verlockungen der Bühne und des Lebens. Ein Gespräch über Klischees, richtige und falsche Rollen, die Kunst der Improvisation und absurde Inszenierungen

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Die Geschichte Bayreuths seit dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. 1977 debütierte der studierte Fagottist und Pianist als Junger Seemann im «Fliegenden Holländer». Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen dem Festival und einem der besten Tenöre, die am Grünen Hügel ihre Aufwartung machten. Unvergessen seine Darbietungen als Lohengrin, Tristan, Siegfried und Parsifal – Rollen, mit denen er auch an anderen großen Bühnen zwischen Wien und New York große Erfolge erzielte. Gemeinsam mit Waltraud Meier bildete Siegfried Jerusalem zudem das Bayreuther Traumpaar; insbesondere als Tristan und Isolde waren die beiden unschlagbar. Lyrische Eindringlichkeit und dramatische Grandezza verbanden sich bei diesem Sängerdarsteller mit einer veritablen Bühnenwirksamkeit, die jede Partie in ihrer psychologischen Physiognomie erfasste. Zeit für ein Resümee.

Lieber Herr Jerusalem, was ist eigentlich ein Heldentenor? Was braucht er?
Es gibt da keine besonderen Zutaten. Er muss durchhalten können. Er muss einfach wissen, was er tut, und darf nicht forcieren. Und das funktioniert nur, wenn er technisch sauber singt. Aber das trifft eigentlich auf alle Partien zu. Beim Heldentenor kommt eben noch die besondere konditionelle Erfordernis dazu. Wenn ich über meine Grenzen gehe, ist nach dem ersten «Siegfried»-Akt Schluss. Im Grunde kann man sich gerade diese Partie nicht einteilen.

Man muss ab der ersten Sekunde präsent sein und kann nicht sparen, auch nicht im lyrischen zweiten Akt. Also muss man sich in jeder Sekunde auf die Technik konzentrieren.

Empfanden Sie sich als typischen Heldentenor?
Ich weiß nicht. Ich glaube, das ist mehr oder weniger ein Klischee. Man kommt erst mit der Zeit dahinter, dass es im Grunde eine rein technische Sache und keine Haltungsfrage ist. Wo die Technik aufhört, fängt der Unsinn an. Natürlich passiert es, dass man diese Voraussetzungen mal vergisst.

Aber muss man nicht auch Haudrauf-Lust haben? Sonst nimmt einem doch keiner den Siegfried ab.
Ein bisschen. Ich war eher der Typ, der nicht nachgegeben hat. ...

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Opernwelt Jahrbuch 2024
Rubrik: Siegfried Jerusalem, Seite 136
von Markus Thiel

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