Glücksfalten auf meiner Stirn
Die Erinnerung ist ein seltsames Tier. Manchmal, meist in der Nacht, steht sie fauchend und zähnefletschend vor mir, so als wolle sie mich gleich zerreißen; das sind die Augenblicke, in denen ich mich, in Schweiß badend, vor ihr fürchte. Manchmal ist sie hingegen wie eine sprießende Blume, und plötzlich sieht die Welt um mich herum so unfassbar schön aus; das sind die Augenblicke, aus denen ich meine Kraft schöpfe, auch die literarische.
Marcel Proust, den ich immer sehr verehrt und dessen megalomanes Opus «À la recherche du temps perdu» ich schon drei Mal gelesen habe, nannte die Botin des Unbewussten eine memoire involontaire, etwas Ungefähres, vage Aufscheinendes, etwas, das unvermittelt einfach da ist, als Körper, als Bild, als Klang. Wie das Leben selbst.
Als ich von der «Opernwelt» darum gebeten wurde, meine Frankfurter Erlebnisse aufzuschreiben, fiel mir Proust natürlich wieder ein. Es ging darum, sich zu erinnern, an zehn Monate meines Lebens, die ich am Main gewohnt, gelebt und, ja, auch geliebt habe, vor allem an all die Abende, an denen ich in der Oper Aufführungen besucht habe. Und das waren so viele, dass die Bilder davon sich überlappen, wie bei einem Palimpsest, und ...
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Opernwelt Jahrbuch 2024
Rubrik: Opernhaus des Jahres, Seite 6
von Olga Myschkina
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Søren Kierkegaard könnte helfen. In seinem Traktat «Die Wiederholung» bat er seine Leserinnen und Leser fast inständig darum, nicht an Dingen zu verzweifeln, die immer wieder aufs Neue vor ihnen stünden und sie an die Vergänglichkeit des Seins erinnerten. Man müsse, so der dänische Philosoph, Prosaist und dialektisch begabte, evangelisch-lutherische Theologe (dem...