100 Tiefe Einsamkeiten
Im Anfang ist das Bild, Claude Monets «Gondel in Venedig», eine konzise, nebelumhüllte Impression. Doch sogleich folgen die passenden Verse aus Nietzsches «Ecce homo», als unverhohlene Hommage an die Stadt, die dem Philosophen, in fünf Episoden, Fluchtpunkt wie (brüchiges) Idyll war: «An der Brücke stand / jüngst ich in brauner Nacht. / Fernerher kam Gesang: / goldener Tropfen quoll’s / über die zitternde Fläche weg.
/ Gondeln, Lichter, Musik – / trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus …» Auf diese erste melancholische Strophe folgt eine zweite, sie gab dem Buch von Renate Müller-Buck über Nietzsche in Venedig den poetischen Titel: «Meine Seele, ein Saitenspiel, / sang sich, unsichtbar berührt, / heimlich ein Gondellied dazu, / zitternd vor bunter Seligkeit …»
Friedrich Nietzsche ist ein schwerkranker, der Welt beinahe schon abhandengekommener Mann, als er im März 1882 erstmals und schwankenden Fußes die Serenissima betritt. Seine physische wie psychische Konstitution ist erschreckend labil, dabei ist er gerade mal 35 Jahre alt. Venedig bietet ihm zumindest eine zarte Aufhellung des Gemüts, ein, wie er an seinen Schüler und engen Vertrauten Heinrich Köselitz schreibt, «melancholisches Glück». Nie indes ist dieses «Glück» von langer Dauer; zu unstet wandelt Nietzsche umher, so, als sei er auf der Suche nach etwas, das zu finden ihm die Götter nicht mehr erlauben. Und doch: Venedig, so heißt es in einem Brief aus dem Jahr 1889, ist ihm «ein geweihter Ort für mein Gefühl».
Renate Müller-Buck folgt ihm auf den Gängen über das gleichmäßige Trachytsteinpflaster, folgt ihm vermittels zahlreicher Briefzitate, auch auf dem gleichsam inneren, von Diskontinuitäten, schwankenden Stimmungen, ständigen Wohnungswechseln und einer grundsätzlichen Wankelmütigkeit gekennzeichneten Weg. Fast scheint es, als habe Nietzsche seine «Mitte» verloren und kreise um sich selbst wie ein ferner Planet; ein ontologischer Fluch lastet auf ihm. Darin ähnelt er seinem Idol Lord Byron, dessen «Manfred» ihn in jungen Jahren schon zu einer Manfred-Ouvertüre anregte (über die Hans von Bülow drakonisch urteilte, sie sei «Nothzucht an der Euterpe»), und den er auch in seinem 1881 erschienenen Band «Morgenröthe» erneut sinnierend in den Blick nimmt. Während aber Byron aus der dunklen Atmosphäre um sich herum vor allem künstlerische Inspiration gewinnt – neben dem dritten und vierten Gesang des «Childe Herold» verfasst er in der Lagunenstadt auch die «Ode an Venedig», in welcher er wort- und bildreich ihren Untergang beklagt – tut sich sein Bewunderer eher schwer mit der Produktion; zu bleiern beschwert scheint die verwundete Seele.
Nietzsche, so legt es die Autorin dieser erlesenen, mit unzähligen Bezügen versehenen Studie nahe, ist eher ein Gast in Venedig. Er pflegt auch dort seine Neurosen, die sich mehr und mehr zu Psychosen ausweiten, und er sieht sich darin im Einklang mit dem, was ihn umgibt: «100 tiefe Einsamkeiten», schreibt er schon bei seinem ersten Aufenthalt im Frühjahr 1880 in sein Notizbuch, «bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber». Diesem Zauber erliegt Nietzsche, um sich aber immer wieder auch von ihm zu befreien. So dauert es beispielsweise vier Jahre, bis er nach dem ersten Besuch zurückkehrt an jenen Ort, der für ihn vor allem mit einem Namen verbunden ist – Richard Wagner. Über die Hassliebe zwischen den beiden ist hinlänglich berichtet worden. Renate Müller-Buck erinnert nun noch einmal an die Ambivalenzen in Nietzsches Gefühlshaushalt, an die Zeit, in der er darauf hofft, doch noch zur Premiere des «Parsifal» eingeladen zu werden, obwohl das Band zwischen ihm und dem Gesamtkunstwerker längst zerrissen ist und Wagner keine Anstalten macht, neue Fäden zu spinnen. Nietzsche, der größte Schwärmer unter den Spätromantikern, hofft in seinem zunehmenden Wahn, es möge ein Wunder geschehen. So reist er im April 1882 nach Messina, weil er erfahren hat, dass auch sein ehemaliger Freund beabsichtigt, dorthin zu kommen; vier Tage schleichen beide durch die Stadt, zu einer Begegnung kommt es nicht.
Wie sehr Nietzsche unter der Entfremdung leidet, zeigt sein Verhalten danach. Auf der Fahrt nach Naumburg führt er die soeben entstandene Schrift «Die fröhliche Wissenschaft» mit, in der irrigen Hoffnung, man könne sein Büchlein unter den Bayreuther Festspielgästen verteilen. Wagner wiederum liest es im Herbst desselben Jahres, als er, um sich von den Bayreuther Strapazen zu erholen, im Palazzo Vendramin weilt. Sein Urteil, Cosima hat es in ihrem Tagebuch festgehalten, ist vernichtend: «Alles sei von Schopenhauer entlehnt, was Wert habe. Und der ganze Mensch sei ihm widerwärtig.»Nietzsche hört es nicht. Und stürzt buchstäblich in sich zusammen, als er von Wagners Tod erfährt. Sein Leben sei, schreibt er an Köselitz, «in allen Fundamenten mißrathen», sein «Zarathustra», der «genau in der heiligen Stunde fertig gemacht wurde, in der Richard Wagner in Venedig starb», sei eine «Thorheit». Gleichwohl arbeitet er später weiter an diesem Traktat, auch kehrt er wiederholt nach Venedig zurück, zurück zur morbidezza, zum Zärtlich-Müßiggängerischen. Dieser Aura erliegt Friedrich Nietzsche fortlaufend; sie in gewählt-poetische Worte zu kleiden, darin liegt das nicht geringe Verdienst dieses feinen Buches.
RENATE MÜLLER-BUCK: « ... ZITTERND VOR BUNTER SELIGKEIT»
Nietzsche in Venedig Wallstein, Göttingen 2024 199 Seiten; 26,00 Euro
Opernwelt September/Oktober 2024
Rubrik: CD, DVD, Buch, Seite 55
von Jan Verheyen
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