Zürich: Sozialstrategien der Leere
Zum letzten Mal Theater vor dem Lockdown, vielleicht sogar die letzte Premiere der Spielzeit: Zwei Tage vor Christoph Marthalers abgesagter Dieter-Roth-Uraufführung «Das Weinen (Das Wähnen)» konnte Leonie Böhm, Hausregisseurin am Schauspielhaus, ihren Büchner-Abend noch herausbringen. Es grenzt an ein Wunder, viele Theater hatten schon geschlossen, und am darauffolgenden Tag erließ der Schweizer Bundesrat das generelle Versammlungsverbot.
Aber auch an diesem Donnerstagabend in der kleinen Schiffbau-Box, dem Kammerspiel am Schauspielhaus, waren die Zuschauerreihen schon gelichtet, namentlich das im Durchschnitt eben doch ältere Zürcher Premierenpublikum blieb aus, allen bereitgestellten Desinfektionsmittelspendern zum Trotz. Und Ko-Hausherr Nicolas Stemann begrüßte die Unverdrossenen mit dem Optimismus der Verzweiflung: Keiner weiß, was kommen mag.
Durchaus melancholisch gestimmt erwies sich auch die Kunst an diesem Abend. Nämlich auf Weltschmerz und Authentizitätssehnsucht getunt, auf eine Leonce-Befindlichkeit, wie sie sich in modernen Zusammenhängen manifestieren könnte. Auf dem männlichen Protagonisten liegt die ganze Aufmerksamkeit. Nicht «Leonce und Lena» überschreibt ...
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Theater heute Mai 2020
Rubrik: Chronik, Seite 57
von Andreas Klaeui
Ein kleines Virus legt nicht nur das Theatertreffen lahm – was noch niemandem zuvor in 57 Jahren gelungen ist –, sondern auch gleich den Rest der Welt, sofern er menschlich besiedelt ist. Eine Pandemie mit Abermillionen Infizierten ist die größte anzunehmende Kränkung für hominide Allmachtsfantasien und technologischen Machbarkeitsglauben und lässt alle übrigen...
Eigentlich läuft das Theater gerade in Zeiten der Krise zur Höchstform auf. Als Ort subversiver Gemeinschaft und kollektiver Selbstvergewisserung, zum Mut fassen und Kraft schöpfen und um mitten in einer unübersichtlichen gesellschaftspolitischen Situation den Blick für besondere Standpunkte zu öffnen und die Gedanken zu schärfen. All das wäre auch jetzt besonders...
Vor drei Jahren marschierten Schillers «Räuber» noch als skandierender Männer-Bund, angeschirrt und gleichgetaktet von Ulrich Rasche, im Münchner Residenztheater über tonnenschwere Riesenlaufbänder (weshalb die Inszenierung beim Theatertreffen 2017 nur als Video-Aufzeichnung gezeigt werden konnte) und erzeugten dabei mit geballtem Gruppenpathos einen aufwühlend...