Theater in Zeiten von Corona
Ich sitze in der letzten Maschine aus Teheran. So sieht es aus. Den Flughafen habe ich immer gehasst. Der Teheraner Flughafen IKA, weit entfernt von der Stadt in einer Wüstenlandschaft, hat nichts zu tun mit dem Teheran, das ich kenne, ist aber meine Verbindung in den Iran. Heute Nacht kriegt er von mir mehr Mitleid als Hass. Denn nun sitze ich neben vielen Iranern und Deutschen im letzten Iran- Air-Flug nach Frankfurt. Gesichter voller Panik, die meisten tragen Masken und Handschuhe und erzählen, wie sie noch einen Platz bekommen haben.
Dass sie trotz Schließungen wegen Corona-Epidemie am Tag noch gearbeitet haben, bis plötzlich der Anruf kam, dass es noch ein Ticket für diesen Flug gäbe.
Vor drei Wochen war Corona noch ein Ärgernis, das mir und unserer Theatergruppe die Laune verderben wollte. Wir hatten es mit unserem Stück nie einfach gehabt und waren sicher, dass wir auch dieses Problem bewältigen würden, ohne zu ahnen, dass uns diesmal, zu unserem traurigen Erstaunen, weder unsere Kraft noch unser Wille helfen würden.
Unsere Autorin und Regisseurin, Pegah Tabassinejad, hatte sich an der kanadischen Simon Fraser Universität und nach ihrer Rückkehr in den Iran intensiv mit Ibsens «Nora oder Ein Puppenheim» beschäftigt und seit drei Jahren versucht, dieses Stück in einer radikalen Form in Teheran auf die Bühne zu bringen. Pegah ist eine interdisziplinäre Künstlerin, die die iranische Theaterszene sehr gut kennt und als Dozentin tätig war. Die Idee, «Nora» mit einem ungewöhnlichen Konzept von Bühnenraum und Schauspielerpräsenz aufzuführen, brachte sie fast bis zur Premiere, die dann vom aufführenden Theater unter fadenscheinigen Gründen abgesagt wurde. Die Gruppe löste sich auf. Nun der zweite Versuch.
Eine zeitgemäße «Nora»
Wir kannten uns schon dem Namen nach, als sie mich vor einem Jahr anrief und über ihr Projekt redete. Ich wohne schon seit Jahren in Berlin, hatte an der Teheraner Universität Theater studiert und dann an der Freien Universität in Berlin promoviert. In Teheran hatte ich immer wieder auch als Filmschauspielerin gearbeitet, meine erste Rolle spielte ich in «Deep Breath (Nafas-e Amigh)», der unglaublicherweise ein Kultfilm wurde und den Pegah sehr mochte. Das ambitionierte iranische Kino, das ich aus den Nuller Jahren kannte, gibt es nicht mehr, und die Kinoindustrie ist inzwischen so kommerziell, dass unabhängige Projekte kaum noch auf die Beine zu stellen sind. Unabhängige Intellektuelle und Künstler aus der Szene auszusortieren und sie durch die neue Kultur-Wirtschaftspolitik zu schwächen, scheint gut zu funktionieren.
Die Privatisierung von Theatern, die viele Künstler als Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung begrüßten, wurde zum Fluch. Theaterproduzenten und Regisseure schufen über Nacht Erfolgsstücke mit Filmstars, Kassenschlager, deren Erfolg nur vom Verkauf bestimmt war. Derzeit geht staatliche Förderung nur noch an bestimmte Personen, und jedes Projekt muss den Produzenten nicht nur die Rückzahlung der Investitionen zusichern, sondern auch den Erlös von Gewinnen. Demzufolge wird jedes Experiment und jede Radikalität als Quotenkiller betrachtet, die Inszenierungen werden immer einförmiger, mit immer mehr Vorstellungen. Gelegentlich wagt noch jemand ein Experiment, aber die Szene von Theaterkünstlern, die sich nicht mit Kultur als Kommerz beschäftigen wollen, ist sehr klein.
Pegah rief mich also vor einem Jahr an und sprach über «Nora», und ich wurde neugierig. Ich hatte im Iran noch nie mit einer Regisseurin gearbeitet. Es gibt natürlich viele Frauen in der Film- und Theaterszene, aber es ist weitgehend eine männlich dominierte Welt. Ihre Idee hatte viel mit ihrem und meinem Leben zu tun. Mit unserem Leben im digitalen Zeitalter, mit unserer Kommunikation mit Eltern und Geschwistern, die sich alle in anderen Teilen der Welt befinden. Mit Kameras und einem neuen Gefühl für Räume, Darstellung und Selbstdarstellung, mit dem Wunsch, unser Theater im Iran zu machen. Unsere Themen waren sehr ähnlich, und ich fand es aufregend, mit einer gebildeten Frau zu arbeiten, ohne von ihr bei jeder Diskussion oder Meinungsverschiedenheit sarkastisch «Frau Doktor» genannt zu werden.
Anfang September wurde ich ungeduldig. Pegah versuchte, die Finanzierung aufzubringen, und ich wurde nervös, ob es die richtige Entscheidung war, Familie und Arbeit in Berlin für mindestens drei Monaten zu verlassen, um in den Iran zu fahren und Nora zu spielen. Ich war zwar fast jedes Jahr im Iran, aber die Filmprojekte liefen maximal eineinhalb Monate und waren finanziell meist gesichert. Anfang Oktober war ich für ein paar Vorträge an der Teheraner Universität und an privaten Kunstschulen und nutzte die Zeit, das Projekt und die mit ihm verbundenen Leute kennenzulernen. Allein die technische Seite war sehr komplex und teuer. Man suchte nach Möglichkeiten, jenseits des staatlichen Internets ein eigenes Kommunikationsnetz zu errichten, das das Theater mit anderen Orten in der Nähe verbinden sollte. Jede Figur (Nora, Torvald, Christine, Nils und Dr. Rank) sollte separat, in unterschiedlichen Räumen spielen, ohne die anderen Mitspieler sehen zu können. Bilder und Sound wurden durch Überwachungskameras live in den Theatersaal übertragen und waren auf der Bühne auf fünf großen Bildschirmen (3x1,5 Meter) zu sehen. Die einzige Verbindung zwischen den Schauspielern und Schauspielerinnen war eine Leitung mit den Stimmen, weiter nichts.
Lockdown im Internet
Wir begannen mit Textproben zwischen Nora und Torvald. Pegah und ich waren glücklich, obwohl längst nicht alle Probleme gelöst waren. Der Produzent versuchte uns zu überzeugen, dass finanziell alles klappen würde, aber immer wieder kam es zu seltsamen Streitereien, die wir beide nicht verstanden. Wir wollten klare Termine, aber außer dem Theatersaal, der privat geführt ist und ein recht kommerzielles Profil hat, wurden wir über alles im Unklaren gehalten. Schließlich häuften sich so viele Unklarheiten, dass wir nicht mehr mit dem Produzenten arbeiten konnten. Wir standen wieder am Anfang. Meine ganze Planung war ruiniert, und ich hatte keine Ahnung, was in den nächsten Wochen passieren würde. Das Technikteam war schon seit langem mit Proben beschäftigt, und das letzte, was wir uns vorstellen wollten, war, Nora jetzt aufzugeben.
Ich flog zurück nach Berlin, wir kommunizierten täglich über Messenger, bis die iranische Regierung im November plötzlich entschied, im ganzen Land das Internet abzuschalten. Ich bekam einen Anruf von einer Freundin, die gerade ihre Familie besuchte: «Mach Dir keine Sorge, wenn du nichts von mir hörst! Es gibt kein Netz!» Ich rief meine Eltern an, um zu mich vergewissern, dass es ihnen gut geht. «Es wird sehr teuer! – SCHEISS DARAUF!» Es folgten Videos von überall. Persischsprachige Kanäle wie BBC Persien zeigten Bilder von Unruhen im ganzen Land wegen der über Nacht stark gestiegenen Benzinpreise. Eine Woche kein Netz. Als ob ein Teil dieser Welt nicht existiert. Die Verbindung war weg, und die Angst wurde jeden Tag größer.
Nach einer Woche lief das Internet wieder, und es erschienen Bilder und Videos über das, was in dieser einen Woche passiert war. Jeder und Jede aus Kunst und Kultur, die mit den Ermordeten dieser Woche sympathisierten, wurden von einer selbsternannten Cyber-Armee öffentlich attackiert mit der Begründung, die Damen und Herren Künstler hätten sich bei der Präsidentenwahl ja für eine moderate Regierung eingesetzt, und die Opfer der Unruhen seien nun ihr Werk. Der Shitstorm kam von den Konservativen, die die Lage zu ihren Gunsten ausnutzen wollten. Durch die Internetblockade verkauften die Theater und auch die Kinos fast keine Tickets mehr, viele Projekte wurden aufgegeben. Seit der Kündigung des Atomabkommens ist die wirtschaftliche Lage ohnehin so kritisch wie noch nie. Unter Sanktionen leidet an erster Stelle die normale Bevölkerung, und die ersten Kürzungen betreffen immer Kultur und Kunst. Auch Pegahs Versuche, neue Produzenten und Sponsoren zu finden, scheiterten. Wir alle aktivierten unsere Kontakte, um das Projekt zu retten. Aber niemand will in solchen Zeiten ein Theaterprojekt finanzieren, das schon durch Abschalten des Internets scheitern kann.
Wir suchen also nach Alternativen, die technischen Proben laufen weiter, und unsere erste Vorstellung soll im Dezember sein. Es klappt nicht. Wir verlieren den Theatersaal. Pegah hat aber noch einen Plan B. Ich bekomme Angst vor diesen täglichen Planänderungen, versuche aber immer wieder mich in Pegahs Lage zu versetzen und nicht zu vergessen, dass im Iran immer wieder solche Phasen auftreten. Schließlich wird unsere Premiere zum Fajir-Theater-Festival im Februar eingeladen, in eine Sektion, die sich «Das andere Theater» nennt. Danach könnten wir einen Monat im Iranshahr Theatersaal spielen, einem staatlichen Theater, das in jeder Hinsicht viel besser ist als das Privattheater. Ich buche endlich meine Tickets und kontaktiere die Schule für meinen Sohn, werde nach Teheran fliegen, einen Monat später kommen mein Mann und mein Sohn nach.
Technik als Protagonistin
Alles scheint perfekt, bis unmittelbar vor meiner Abreise Qassem Soleimani, ein iranischer General, im Irak von einer amerikanischen Rakete getötet wird. Ein Tag später lande ich auf dem Teheraner Flughafen, bin ein paar Stunden später auf der Probe. Die Energie und das Glücksgefühl bei der Probe sind hoch, aber am Abend reden wir alle über dasselbe Thema: «Kommt jetzt ein Krieg!?» Am nächsten Tag proben wir weiter. Die Diskussionen außerhalb unserer Proben werden aggressiver, aber wir versuchen, nicht die Nerven zu verlieren. Dann passiert die nächste Katastrophe. Eine ziviles Flugzeug wird auf dem Weg von Teheran nach Kiew abgeschossen. Die iranische Regierung gibt erst nach Tagen zu, diese Katastrophe verursacht zu haben. Die Kriegspropaganda verschwindet hinter einer mitleidheischenden Aussage, die alles als «menschlichen Fehler» zu verharmlosen versucht. Die Proteste starten neu, und die Frage kommt auf: Was passiert mit der Festivalsaison?
Die Theaterszene macht den Anfang. Mehrere Gruppen boykottieren das Fajir-Festival. Unsere Produktion entscheidet sich auch dagegen, auf dem Festival aufzutreten, obwohl wir die staatliche Hilfe des Festivals sehr dringend gebraucht hätten. Die Proben werden schwieriger. Die kleinen Handkameras sind schonungslos und ihre Überwachungsbilder brutal. Die Schauspieler werden unsicher und fragen, warum keine richtigen Filmkameras da sind und keine Kameramänner/Frauen diese Arbeit machen. Die Entscheidung, Überwachungskameras zu nehmen, muss immer wieder begründet werden. Denn die Schauspieler verlieren viele ihrer üblichen Mittel durch diese Spielweise. Es gibt nicht nur kein direktes Gegenüber, auch das ständige Tragen der Kamera, die nicht leicht ist und einen sehr großen Bildwinkel erfasst, macht alle nervös. Diese Panikphase hört aber nach eine Woche auf. Die Kameras werden zu einem neu entdeckten Körperteil und das Vertrauen in das Konzept wächst.
Endlich kommt es Mitte Februar zur Premiere, immer noch ohne jede finanzielle Hilfe. Niemand fragt mehr nach Gehältern. Die einzige Unterstützung kommt von Sponsoren, die kein Geld, sondern Ausrüstung, Dekoration oder auch Anzeigen spenden. Der erste Abend läuft perfekt. Zweieinhalb Stunden ohne technische Probleme. Am zweiten Tag merken wir alle, dass diese Aufführung nie langweilig werden wird und immer aufregend bleibt. Die Technik fängt an, sich als Hauptdarstellerin zu beweisen, und wir sind ihr alle ausgeliefert. Übertragungsaussetzer, Geschwindigkeitsverzögerungen, Bugs im System etc. Alles, was wir schon befürchtet haben und noch viel, viel mehr passiert, und wir haben keine andere Wahl, als uns anzupassen. Die Maschine läuft, und wir sind ein Teil davon.
Am Ende, als Nora sich von ihren Mann Torvald trennt, darf ich das Haus verlassen, kurz auf der Bühne erscheinen und dann über den Zuschauerraum den Saal verlassen. So kann ich die Treppen hoch und runter rennen und wieder in meinem Haus verschwinden, um vor der Kamera die Verbeugung zu machen. Die Isolation und die sehr schwierige Situation des Projekts brachten uns, obwohl getrennt spielend, einander sehr nahe.
Die ignorierte Gefahr
Dann kamen die Reaktionen des Publikums. Hass und Liebe, jeweils extrem! Den meisten Hass bekommen wir als lauten Protest, dass man schließlich hier sei, um Schauspieler auf der Bühne sehen. Viele können gar nicht glauben, dass das Ganze live ist. Manche verlassen den Saal in den ersten zehn Minuten. Gleichzeitig bekommen wir viel Lob von Kritikern und Intellektuellen, was aber die normalen Theaterzuschauer nicht interessiert. Wir versuchen auf unserer Internetseite und nach den Vorstellungen mit den Zuschauern zu diskutieren, aber uns wird wieder und wieder vorgeworfen, dass das kein Theater sei und wir die Zuschauer darauf nicht vorbereitet hätten.
Sechs Vorstellung laufen planmäßig. Das Interesse und die Reaktionen werden jeden Tag intensiver, und wir können wirklich kaum fassen, dass wir aus dem Nichts dieses enorme Projekt gestemmt haben. Aber die Freude ist sehr kurz. Pegah ruft mich an und sagt, dass alle Theater wegen des Corona-Virus eine Woche geschlossen werden. Ich kann es nicht glauben. Krieg, Flugzeugabsturz und jetzt Corona! Wir hoffen, dass nach einer Woche vielleicht alles wieder normal wird. Nach ein paar Tagen sagt Pegah, dass der Vorstellungsausfall dieser einen Woche so viel finanziellen Schaden verursacht hat, dass eine Fortsetzung unmöglich ist. Die Kosten für Sound und Gerätemiete waren so hoch, und keiner kann in dieser Zeit einen solchen Einnahmeausfall verkraften. Immer noch bleiben wir hoffnungsvoll, aber Corona ist stärker. Eine Katastrophe, die vielleicht in diesem Ausmaß hätte verhindert werden können. Aus Angst, Panik zu erzeugen, handelt die Regierung spät, zu spät: Als kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, Schulen und Universitäten schließen, schließlich auch das Freitagsgebet und das Parlament, ist die zu lange ignorierte Gefahr schon bittere Realität. Die Theater bleiben zu, Woche um Woche. Es gibt Schlimmeres! Es gibt immer Schlimmeres! Wir sitzen zu Haus und kommunizieren miteinander, wieder durch die Kamera, in unserer Selbstquarantäne. Unsere Interviews und Kritikersessions werden wie unser Stück: jeder in seinem eigenen Raum, isoliert, so nah und so fern.
Die letzte Maschine aus Teheran landet in Frankfurt. Mein Sohn und ich steigen aus, und die Wiedervereinigung unserer Familie, die zwischendurch wie ein unmöglicher Traum schien, wird Wirklichkeit. Jetzt sitze ich wieder mit meinem Handy und rede mit Pegah durch die runde kleine Kamera aus meiner Selbstisolation in Berlin. Wir planen weiter unmögliche Pläne.
Maryam Palizban, geboren 1981 in Iran, ist promovierte Theaterwissenschaftlerin, Autorin, Schauspielerin und Regisseurin. Sie lehrt, schreibt und spielt in Berlin und Teheran.
Wer es nicht wahrhaben will, sollte sich spätestens jetzt damit abfinden: Das mit Europa wird nichts mehr. Der gemeine Europäer wird sich in naher Zukunft zum Meer hin wohl mit einer Mauer verbarrikadieren und im Landesinnern weiterhin die Natur und sich selbst zerstören. Auf der Meeresseite der Mauer wird es allerdings noch Menschen geben. Sie strandeten hier, richteten sich notdürftig...
Angeführt von einem Stumpen, zuckelt der Tobler-Clan über die Bühne und saugt gierig die ersten Eindrücke auf, die der neue Gehilfe des Hauses verströmt. Der Stumpen steckt zwischen den Zähnen des Patrons – Carl Tobler, Erfindungen aller möglichen sowie unmöglichen Art; der Neuankömmling Joseph Marti steckt im schwarzen Anzug, eine unglückliche, aufgrund prekärer Verhältnisse allerdings...
Wie wird man Darsteller oder Darstellerin ohne etwas oder jemanden darzustellen? Am besten als Zuschauerin oder Zuschauer. Wen oder was stellt der Zuschauer dann dar? Sich selbst als Zuschauer. Nur der Modus des Beobachtens wird thematisiert. Verschiedene Methoden der Verwechslung von Schauschauer und Zuspieler zeigt das Bochumer Schauspielhaus mit zwei kleinen Projekten: Harold Pinters...