Schöne Körper, Katharsis, Musik

Eine Rede auf René Pollesch, einen maßgeblichen Künstler

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Ich war mir nicht ganz sicher, ob es mir gelingen würde, den Bogen von René Pollesch zu Else Lasker-Schüler zu schlagen. Bzw. umgekehrt. Der Gemeinsamkeiten sind wenige. Selbst die Einführung stilisiert exotischer Sehnsuchtsnamen, die es in beider Autoren Werk gibt – Jussuf von Theben, Pablo in der Plusfiliale –, ist jeweils komplett anders gemeint. Vielleicht kann man es bei der Feststellung belassen, dass René Pollesch einen Preis verdient hat, der ihren Namen trägt, und sie diesen Preisträger verdient.

Vielleicht gibt es jenseits dieser Verdienste keine Gemeinsamkeit; und daher wende ich mich jetzt dem einen der beiden Verdienste zu, dem von René Pollesch. Dem müsste dieses Wort – VERDIENST – zunächst allerdings verdächtig vorkommen: denn ein Misstrauen, ein selbstverständlich berechtigtes Misstrauen gibt es in vielen seiner Stücke gegenüber der Naturalisierung ökonomischer Metaphern. Wie soll denn bitte ein Autor, Regisseur heute Verdienste erwerben, die von so einer abstrakten Art sind, dass man sie vergleichen könnte mit denen einer Dichterin einer ganz anderen Epoche; was für merkwürdige Tauschbeziehungen will man herstellen in diesem universellen Netz der verdienten Preise?

Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft

Okay, bleiben wir beim Misstrauen, nicht beim Verdienst. Alle anderen Preisträger sind klar identifizierbar als Autoren von Stücken, hier wäre eine wunderbare Äquivalenzkette über einen, wenn auch sehr kleinen, gemeinsamen Nenner herstellbar. Jedoch: René Pollesch ist natürlich nicht einfach ein Autor von Stücken. Es gibt, dass ist ja gerade der Punkt überhaupt keine der konventionellen Job-Descriptions und Funktionsbeschreibungen innerhalb des Theaters, ja der Künste, die er nicht infrage gestellt hätte. Ein Text von Pollesch, so sagt er selbst einmal, «will noch etwas wissen. Er soll keine Bilanz sein.» Das, was René Pollesch macht, ist mithin nicht fertig, wenn der Text fertig ist. Darum führt er anschließend Regie, bzw. erarbeitet den Text mit seinen berühmten Band-artigen Kollektiven, von denen er einige, über die deutschsprachige Welt verteilt, unterhält. Ich will das natürlich nicht so erotisierend verstanden wissen, wie der Ausdruck «unterhalten» in diesem Zusammenhang klingen mag  – a collective in every port, wie der Sailor bei Howard Hawks sagen könnte: in jedem Stadttheater ein Mikro-Ensemble; auch wenn uns seine Stücke der letzten Jahre nahelegen, die Beziehungen einzelner zu Gruppen und Vielheiten zu erwägen und bedenken. Schließlich geht es dort immer wieder um die Liebe zu Chören, Netzwerken und anderen vielteiligen Subjektverkettungen.

Nein, mir geht es darum, dass es keine Kleinigkeit, keine Marotte, kein bloßes ATTRIBUT des hier geehrten Autor ist, dass er sich als solcher nur im Zusammenhang mit seinen anderen Tätigkeiten und seinen anderen Autoren verstanden wissen will, sondern dass es in seiner Arbeit seit mehr als zehn Jahren um nichts anderes geht, als grundsätzlich die Funktion der einzelnen Beteiligten des arbeitsteiligen Unternehmens Theater neu zu bestimmen: Autorin, Darstellerin, Souffleur, Ensemble, Text, Musik – und so weit ich sehe, hat das nicht nur seit Ewigkeiten sonst keiner versucht. Es gibt auch kein Wort für diese grundstürzende Tätigkeit. Neuerfindung ist jedenfalls schon für zwangsflexible Lebensentwürfe unter neoliberalen Bedingungen vergeben.

Mein Background, um kurz vom Laudator zu reden, ist ja weniger das Theater als Bildende Kunst und Pop-Musik. Für diese Präferenz sprach, als sie sich während der 80er Jahre verfestigte, pauschal gesprochen, dass ich mich meistens darauf verlassen konnte, dass in diesen beiden Disziplinen die Gegenwart sich auch formal schneller und plastischer artikulierte und diskutierbar wurde; während das Theater immer nur eine längst von Feuilleton und Massenmedien durchdiagnostizierte Realität zu sich hereinließ, um sie dann auf Klassikerstoffe zu projizieren. Doch schon in den späten 90er Jahren ließen mich meine Stammkulturbereiche im Stich: Der Gegenwartsbezug verblasste, weil niemand mehr die radikalen Formfragen stellte, die in der Bildenden Kunst in der ersten Hälfte der 90er neo-konzeptuell und unter dem Eindruck der neuen Verhältnisse nach ’89 so heftig gestellt wurden. Vor allem aber vernachlässig­ten diese Künste jenen in den 90ern erstmals diagnostizierten epochalen Wechsel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, von der Dominanz fordistischer zu postfordistischer Produktion, von Repression zu Zwangspartizipation, von sedierender Passivierung durch Konsum und Massenkultur zu aktivierender Überidentfikation mit McJob und interaktiver Massenkultur, von Rollenspielenmüssen zu Authentischseinmüssen, von Industrie zu Information, vom externen Befehl zum internen Befehl, von Schizophrenie zur Depression, von körperlicher Unterdrückung zu seelischer Überforderung, von Märkisches Viertel zu Prenzlauer Berg, von Stammtisch zu Facebook – für die meisten Künste war dies nur ein Thema, kein Grund, die eigenen Formate neu zu bedenken. René Pollesch, ein Theaterkünstler, war der erste überhaupt, der im deutschsprachigen Raum die Konsequenzen der neuen Verhältnisse nicht einfach nur thematisierte und benannte, sondern sich daran machte, seine Kunstform, eben das Theater, neu zu bestimmen.

Neues Genre darstellender Kunst

Aber anders als das bei solch avantgardistischen Unternehmungen normalerweise der Fall ist, sind René Polleschs Stücke große Erfolge. Eine große und in den letzten Jahren immer noch zunehmende Zahl deutschsprachiger Theater möchte auf sie nicht mehr verzichten, und pflichtgemäß werden ihre Aufführungen von den Feuilletons und Fachzeitschriften registriert, leider meist nur als Phänotyp. Alles, was es über die Shows zu sagen gibt, ergibt sich aus dem, was man sieht. Was man nicht unmittelbar sieht oder nicht versteht, wird den Eigenarten des Autors zugerechnet, als «typisch Pollesch». Dabei ist dieser Autor nun endlich mal einer, der nicht aus der Schatulle der liebevoll gehegten Idiosynkrasien oder der Überfülle seiner Emotionen lebt, noch als Könner eines lange eingeübten Könnens nervt, sondern in Übereinstimmung mit selbst entwickelten und mit anderen geteilten guten Gründen seine künstlerischen Entscheidungen trifft. Innerhalb dieser Gründe gibt es große Spielräume, in denen tatsächlich Kontingenz und so etwas wie das Selbst sich austoben kann: Verwundert sind die Leute aber vor allem darüber, dass jemand ein neues Genre darstellender Kunst entwickelt hat. Ärgerlich ist oft, dass man ihnen diesen Akt als bloße Autorenmacke und Eigenart verkauft.

Auch ich war von solchen Fehlern natürlich nicht immer frei. Als ich das erste Mal einen längeren Text über René Pollesch geschrieben habe, nannte ich seine Erfindungen noch Regeln. Ich zählte Regeln auf, nach denen Polleschs Theater funktioniert – so als hätte er sie wie eine Versuchsanordnung ex nihilo festgelegt: Es gibt kein Drama. Die auftretenden Personen stellen keine je ihnen zurechenbare einzelne Person dar: Mal spielen mehrere einen oder einer mehrere, Zuordnungen wechseln zuweilen mitten im Satz; die Auftretenden verkörpern keine Rollen, sondern Subjektpositionen, in erster Linie tragen sie dazu bei, dass Sätze auf den Widerstand einer Person treffen, um die Sätze selbst dann wieder als übertragbar und austauschbar vorzuführen. Theoretische Texte sollen wie Bekenntnisse und Liebeslyrik gesprochen werden, emotionale Texte wie reine Reflexion. Als theoretisches Textmaterial wird der Diskussionsstand in avancierter kunst- und kulturwissenschaftlicher und politischer Diskussion herangezogen – die anderswo zum Gegenstand gemachten Texte werden hier zu Akteuren, die über die Versetzung in die erste Person Erfahrungen machen; «nicht Bilanz» werden oder bleiben.

Diese Regeln, die sich inzwischen auch ein bisschen geändert haben, sind aber eigentlich keine Regeln wie die eines Spiels, die man sich ausdenkt, um vielversprechende Strukturen zu generieren, sondern sie sind viel eher direkte Reaktionen auf verschiedene Typen von Elend der Theatersituation, also auf bereits bestehende, meistens unmarkierte Regeln. Konkrete Negationen! Es sind unterschiedlich dauerhafte, wiederholbare künstlerische Eingriffe, die alle scheinbar natürlichen Voraussetzungen des Theaters, auch der meisten des so genannten Regietheaters und des so genannten postdramatischen Theaters, durch sichtbare Methoden ersetzen – ohne allerdings die Attraktionen des Theaters zu kassieren.  Schneller Wechsel von Ereignissen, Menschen, die sich nach formalen Regeln bewegen und sprechen, schöne Körper, Katharsis, Musik und, wie die Performance-Theorie sagt, Ko-Präsenz von Darstellern und Darstellerinnen mit Zuschauerinnen und Zuschauern in einem Raum.

Masken für alle

Die mit dem Drama verbundene Idee von Entwicklung und Verstrickung setzt eine immer schon gegebene Idee eines sich entfaltenden oder an der Entfaltung gehinderten Subjekts normativ voraus, die Pollesch mindestens anachronistisch findet und wenigstens der Markierung wert, wenn nicht drastischerer Maßnahmen; also kein Drama oder ein markiertes Drama, keine klassische zeitbasierte Entwicklungsarchitektur, sondern Wiederholungen, Schleifen, Loops, keine Dialoge, sondern Monologe, keine Vernichtung, sondern Insistieren, keine Plotpoints, sondern Zusammenbrüche oder Musik oder beides. Dass mitten in dieser Opera­tion gerade die Kicks und Reize des Theaters überleben, ist eine Art von Beweis, sozusagen die Probe aufs Exempel: Man kann das auch alles – Drama, Rollenspiel – weglassen, und es geht trotzdem. Was geht? Reiner Surplus? Theater an sich? Marmelade ohne Brot?

Nicht zu verwechseln wäre dies jedenfalls mit einer Befreiung zu wahrer Natur, wie in der klassischen Performance-Art, die rausfinden wollte, wie Schauspiel ohne Rollen geht, Auftritt ohne Repräsentation; es geht vielmehr, im Gegenteil, darum, allem, was sich aufführt, als wäre es Natur, eine Maske aufzusetzen, auf dass es kenntlich werde. Oder zum Verschwinden zu bringen. Zum Beispiel die Vorstellung von einer Lebenswelt und ihrer Repräsentierbarkeit, die Idee des Sittengemäldes und Gesellschaftsporträts: Stattdessen sprechen die Darsteller theoretische Texte. Texte, die an ihnen, an den Darstellern, die Erfahrung machen, geprüft und getragen zu werden wie Kleidungsstücke. Die gesellschaftliche Realität setzt sich auf solchen Fetzen schon ganz von alleine fest.

Und wirft man nicht den kritischen, in Universitätssubkulturen diskutierten theoretischen Texten immer wieder vor, sie wären reine Mode­erscheinungen? Das war schon bei der studentischen Kritischen-Theorie-Begeisterung der 60er so und ist heute immer noch so, wenn es um Haraway, Nancy oder Rancière geht. Genau, und hier treten sie offensiv als Mode auf, als das notwendig der Gegenwart zugewandte Supplement menschlicher Körper in einer gegebenen historischen Situation; verstecken sich nicht hinter der Naturwüchsigkeitsbehauptung bestimmter Repräsentationen von Gesellschaft, von Schicht und Szene, sondern sprechen als theoretische Behauptung alles Wissenswerte über die Lage heutiger Personen aus. Und damit der theoretische Text nicht einfach nur negativ fixiert eine Gegenposition zum milieuplausiblen Naturalismus oder zur literarisierenden Hochkulturprosodie einnimmt, wird die Sprachmelodie, die Körperlichkeit der Aufführung nun wiederum äußerst «naturalistisch» gestaltet, so dass es zu einer komischen Synthese kommt – einer überaus theaterfähigen. Doch alles, was der Rezension dazu in der Regel einfällt, ist entweder, Pollesch wolle Theorie popularisieren, predigen, mache seine Stücke also zum Sprachrohr eines found objects von Text, oder er wolle sich lustig machen, wolle die ganze verdammte Kopflastigkeit parodieren.

Ein maßgeblicher Künstler

Komisch ist aber vielmehr das von den theoretischen Texten Beobachtete, die Erfahrung eben, die sie machen, wenn sie gesprochen werden. Die besteht unter anderem in der bittersüßen Einsicht, dass sie, wie jeder andere heutzutage, nur gut leben und überleben können, wenn sie rasend schnell und virtuos werden, wenn sie nicht zur Ruhe kommen. Vor allem in der letzten Zeit, wie auch schon in Motiven der nur mikrosekundenlangen Heroinoper vor über zehn Jahren, wird in den Inszenierungen von René Pollesch aber auch immer klarer, dass selbst diese Flucht in die Geschwindigkeit noch eine alt-anti-repressive Gewohnheit ist, das «Abhauen des Schizos», wie es bei Deleuze/Guattari heißt, und dass Figuren wie die von Fabian Hinrichs und teilweise auch von Sophie Rois aufgeführten Solisten oder auch die Rolle des alten litauischen Regieassistenten noch etwas anderes verkörpern als die Negation der Ideologie, die gegenwärtiges Leben im Theater vor der Folie vermeintlicher anthropologischer Konstanten repräsentieren und typisieren will. Darüber hinaus gelingt es Pollesch in der präzis eingespielten Arbeit mit diesen Darstellern, dass dort, wo sie purer, glänzender Effekt werden, das zeigen und sagen, was man nur in dieser historischen Sekunde zeigen und sagen kann. Der Effekt wird zur genauesten und gerechtesten Gegenwartsdiagnose. Dabei kann er oder sie oder es auch ganz ruhig werden. Die hohe Konzentra­tion verfliegt dabei nicht.

So wie René Pollesch vor zehn Jahren das erste mir bekannte künstlerische Programm entwickelt hatte, welches der neuen Zeit entsprach, die spätestens mit dem seit den frühen 90ern erkennbaren Ende des Endes der Geschichte begonnen hat, so glaube ich im Moment zu beobachten, dass er auch für die jetzt nach der Bankenkrise angebrochene Zeit dieses Programm entsprechend zu modifizieren begonnen hat. Er negiert die traditionellen Funktionen von Theaterleuten nicht abstrakt, indem er sie anarchisch abschafft, sondern konkret, indem er sie durch solche ersetzt, die von ihren Vorgängern etwas gelernt haben. Dabei ist auch mit ihm etwas Dialektisches passiert, ist er geworden, was er als Kategorie womöglich ablehnt, was ihn am Ende aber vielleicht auch mit Else Lasker-Schüler vergleichbar macht: zu einem der an einer Hand abzählbaren maßgeblichen Künstler der Gegenwart.


Theater heute Jahrbuch 2012
Rubrik: Die Stücke des Jahres, Seite 66
von Diedrich Diederichsen

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