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Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows «Die Möwe» an der Schaubühne, Oliver Frljic mixt Heiner-Müller-Texte zu «Schlachten» am Gorki Theater

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Es gibt wenige Stücke, mit denen man so wunderbar klarmachen kann, was man sich von der Theaterkunst erhofft, wie Anton Tschechows «Die Möwe» (von 1896). Schließlich kreist die Handlung um einen geradezu exemplarischen Dichterwettstreit: Da haben wir auf der einen Seite den ambitionierten Jungdramatiker Kostja, der sich als flammender Visionär und Formenzertrümmerer positioniert, also als Prototyp des Avantgardisten, wie er bald nach der Jahrhundertwende die europäischen Kunstbewegungen dominieren wird.

Und ihm gegenüber sehen wir den erfolgreichen Schriftsteller Trigorin, der mit beiden Beinen noch im Realismus des 19. Jahrhunderts steht und dessen Schaffen in alltäglichen Impressionen wurzelt. Was der Jungspund an imaginativem Furor in die Waagschale wirft, kompensiert Trigorin mit Erdung und Abgeklärtheit. 

Tschechow, dessen eigene menschenschau -ende Dramatik im Grunde der realistischen Poetik Trigorins nähersteht, hat Kostja im ersten Akt einen raumgreifenden Auftritt gegönnt. Dort gibt Kostja im Verbund mit seiner Geliebten Nina in einem kleinen Schauspiel eine Kostprobe seiner lyrisch-dramatischen Kunst, einen finsteren Blick in die Zukunft: «Alles Leben ist erloschen, hat ...

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Theater heute Mai 2023
Rubrik: Aufführungen, Seite 11
von Christian Rakow

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