Allerbeste Nachrichten!
Fangen wir mit den schwierigen Nachrichten an: 15 Kritiker:innen ist dieses Jahr kein Haus eingefallen, das sie guten Gewissens zum «Theater des Jahres» küren möchten.
Ist die Branche erschlagen von pandemiebedingt angestauter Premierenfülle, vielen Ausfällen und Unsicherheiten? Oder ist nach halbwegs überstandenem Corona-Desaster eigentlich jede Bühne ein Sieger? Kommen wir lieber schnell zu den besten News: Einen herausstechenden Sieger gibt es trotzdem! Das Schauspielhaus Bochum unter der Leitung von Johan Simons ist mit 6 Stimmen Theater des Jahres, vor dem Wiener Volksthea -ter mit 4 Stimmen in Intendant Kay Voges’ zweiter Spielzeit.
Die mehr als überzeugend gewählten Schauspieler:innen des Jahres stehen für existenzielle Ernsthaftigkeit, hintergründige Komik und vollen Körpereinsatz: 11 Kritiker:innen votieren für die Schauspielerin des Jahres Lina Beckmann in ihrer mitreißenden Hass- und Bosheitsverkörperung von Shakespeares Antiheld Richard III., inszeniert von Karin Henkel am Deutschen Schauspielhaus Hamburg in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen. 12 Stimmen erhält der Schauspieler des Jahres Samouil Stoyanov, sowohl für schweißtreibende Verse in «huma -nistää!» nach Ernst Jandl, als auch für seine Rollen und Tänze in «Karoline und Kasimir – Noli me tangere» vom Nature Theater of Oklahoma, beide am Volkstheater Wien. Mit jeweils vier Stimmten landen Angela Winkler und Joachim Meyerhoff, die an der Schaubühne als Mutter und Sohn durch Christian Krachts deutschschweizer «Eurotrash» (Regie Jan Bosse) jagen, auf den zweiten Plätzen.
Claudia Bauer hat mit «humanistää!» nach mindestens zwei wiederentdeckten Experimentaldramen des Wiener Lyrikers Ernst Jandl auch die Inszenierung des Jahres auf die Bühne des Wiener Volkstheaters gebracht (9 Voten); hierfür haben zudem Patricia Talacko das Bühnenbild des Jahres entworfen (4 Stimmen) und Andreas Auerbach die Kostüme des Jahres (5 Stimmen). Den zweiten Platz in der Regiekatego -rie teilen sich mit je 4 Voten Christopher Rüpings «Das neue Leben» nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears (Schauspielhaus Bochum) sowie Helgard Haugs Requiem auf zwei Vermisste, ein Passagierflugzeug und ihren Vater: «Good night. All right.» (HAU Berlin u.a.).
Helgard Haugs Text zu «Good night. All right.» – der auf der Bühne nicht gesprochen, sondern als Fließtext projiziert wird – ist mit 9 Voten auch das Stück des Jahres. Den Titel Dramatikerin des Jahres verdient allerdings Sivan Ben Yishai mit insgesamt 11 Stimmen, die sich auf zwei ihrer Stücke verteilen – 6 auf «Wounds are forever», das die Mannheimer Hausautorin im Untertitel «Selbstporträt als Nationaldichterin» nennt und für das sie den Mülheimer Dramatikpreis gewann, sowie 5 Stimmen auf dem trockenen Klagelied sexueller Übergriffkeiten «Like Lovers do», uraufgeführt an den Münchner Kammerspielen.
9 Stimmen entfallen außerdem auf die Nachwuchsdramatikerin des Jahres Sarah Kilter und ihren autobiografisch inspirierten Text «White Passing» über die feinen Unterschiede, Klassismus und Rassismus betreffend. Mit ausgetüftelten Hüftschwüngen in Toshiki Okadas «Doughnuts» überzeugte außerdem Johannes Hegemann 6 Kritiker:innen als Nachwuchsschauspieler des Jahres (dazu kommen noch 2 Stimmen als Schauspieler des Jahres!).
Also doch viele beste Nachrichten. Da wollen sich die Kritiker:innen gar nicht mehr auf das Ärgernis des Jahres stürzen: trotz einiger Rüffel für Covid-19, René Polleschs lauem ersten Intendanzjahr oder die Besucherdebatte findet die Mehrheit, dass man sich angesichts all der schlechten Weltnachrichten nicht auch noch über das Theater ärgern sollte. All right, good night!

Theater heute Jahrbuch 2022
Rubrik: Kriiker:innen-Umfrage, Seite 124
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