Zehn Mal bemerkenswert
Franz Wille Vor einem guten Jahr wurde mit Aplomb eine neue TT-Leitung installiert. Vier Frauen – Carolin Hochleichter, Olena Apchel, Marta Hewelt, Joanna Nuckowska – haben sich viel vorgenommen: kollektive Leitung, die Kritikerjury zumindest infrage zu stellen, ostmitteleuropäische Erweiterung, eine Aufwertung des bisherigen Rahmenprogramms, das auf einer Ebene mit den 10 bemerkenswerten Inszenierung stehen sollte. In der Pressemitteilung damals war die Rede von internationalen Perspektiven, Horizonterweiterung, Vernetzung, kollektiven und kreativen neuen Wegen.
Anfang September wurden die Verträge wieder aufgelöst. Warum? Lag es am fehlenden Geld, am Misserfolg in diesem Mai oder einfach am falschen Konzept?
Matthias Pees Die Erfahrungen mit der ersten Ausgabe haben gezeigt, dass wir uns zu viel vorgenommen haben. Und damit das Theatertreffen überfrachten, auch perspektivisch. Der euphorische Plan für die Erweiterung des Theatertreffens, den wir zu einem Zeitpunkt entworfen haben, als auch ich mich selbst hier noch in der Vorbereitungszeit befand, ließ sich weder an -gemessen realisieren noch adaptieren. Daraus haben wir die Konsequenzen gezogen. Viele der einzelnen Aspekte dieses Plans waren, sind und bleiben relevant, sind aber im Theatertreffen nicht in angemessenem Umfang unterzubringen. Die traditionelle Ost-West-Blickachse der Berliner Festspiele zu stärken, wird angesichts der Lage in Deutschland, Europa und der Welt erneut zu einer wichtigen Aufgabe dieser Institution – die allerdings aus vielen Festivals und Veranstaltungen besteht. Das Theatertreffen, dessen Schwerpunkt auf der Präsentation von zehn bemerkenswerten Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum liegt und das darauf aufgrund des großen Aufwands auch seine volle Aufmerksamkeit richten können muss, hat sich für diese neue Aufgabe nicht als das geeignete Festival herausgestellt.
FW Man kann aber auch aus Misserfolgen lernen und sie zu korrigieren versuchen, ohne gleich das ganze Leitungsteam auszutauschen.
Pees Wir haben uns einvernehmlich auf die Aufhebung der bestehenden Verträge verständigt, weil wir gemeinsam zu dem Schluss gekommen sind, dass in dieser Konstellation eine Weiterarbeit keinen Sinn macht. Die personelle Zusammensetzung des Leitungsteams war ja untrennbar verbunden mit dem Erweiterungskonzept, zu dem etwa die polnische und die ukrainische Kollegin ihre besonderen Kernkompetenzen beitrugen.
Die Frage der Leitung
FW Gab es vielleicht auch ein Missverständnis mit dem Begriff «Theatertreffenleitung», was Handlungsspielräume suggeriert, die nicht eigentlich vorgesehen sind? Diese Leitung hat ja zuerst die Aufgabe, die 10er-Auswahl der Kritiker:innenjury organisatorisch umzusetzen.
Pees Eine Festivalleitung hat auch die Budgetverantwortung, übernimmt die Personalführung, die Kommunikation und die Vermittlung des Programms …
FW … das gehört aber alles zum administrativen Komplex …
Pees … ist aber extrem herausfordernd, wenn man bedenkt, dass die TT-Leitung die Programmentscheidung der Jury innerhalb von nur drei Monaten in ein funktionierendes Festival umsetzen muss.
FW Gleichwohl sind die Handlungsspielräume andere, wenn man auch das Programm bestimmt. Das ist beim Theatertreffen nicht der Fall.
Pees Das war allen Beteiligten von Anfang an klar.
FW Tatsächlich?
Pees Ja. Vielleicht haben wir das nicht optimal vermittelt, vielleicht wurde es nur nicht richtig verstanden. Die Kritiker:innenjury sollte jedenfalls nie abgeschafft werden.
FW Es geht jetzt wieder zurück auf das Modell einer alleinigen Festivalleiterin. Frau Hertlein-Hull, wenn sie die Debatten ums TT im letzten Jahr am Rande mitverfolgt haben, was denken Sie darüber?
Nora Hertlein-Hull Es können Teamleitungen scheitern und gelingen, und es können Solo-Leitungen scheitern und gelingen. Man sollte da nichts falsch verallgemeinern. Eine Einzelleitung beim TT erleichtert sicher die organisatorische Abstimmung, und das wird helfen, Ruhe hereinzubringen und sich auf die Kernaufgaben zu konzentrieren.
FW Werden die Elemente des TT um das Kernprogramm herum beibehalten oder weiter -entwickelt – also Internationales Forum, Rahmenprogramm, der zuletzt abgeschaffte Stücke - markt –, und gibt es dafür auch wieder neue Spartenleitungen?
Hertlein-Hull Ich will Personalentscheidungen nicht vorgreifen, kann aber natürlich nicht den Job allein machen, den bisher drei Frauen gemacht haben. Werde ich auch nicht! Wir schauen uns gerade sehr genau an, wie wir das machen, weil alle diese Formate gut und verantwortlich betreut werden müssen.
FW Die einzelnen Sparten werden stattfinden.
Hertlein-Hull Aber sicher.
FW Und der Stückemarkt?
Hertlein-Hull Ich beschäftige mich derzeit mit der letzten Ausgabe des Theatertreffens ebenso wie mit dem Modell davor und denke dabei über verschiedene Formate nach. Für das Theatertreffen 2024 werden wir da wohl noch kein entsprechendes Ergebnis präsentieren können, aber ich bin in zahlreichen Gesprächen und Recherchen, um neue Möglichkeiten auszuloten. Ich bin da sehr offen.
Diener zweier Herren
FW Klingt gut! Noch eine strukturelle Frage: Das Theatertreffen ist ein Diener zweier Herren. Veranstaltet von den Berliner Festspielen, finanziert aber seit 2002 als Leuchtturmprojekt der Bundeskulturstiftung. Ist diese Doppelstruktur noch sinnvoll? Über die Jahre hat sich diese Struktur zwar verfestigt, aber sie war auch nicht friktionsfrei, vor allem immer dann nicht, wenn die Leuchtturmhaftigkeit verlängert werden musste.
Pees Das Theatertreffen ist seit vielen Jahrzehnten ein integrativer Bestandteil der Berliner Festspiele. Die Entscheidung, es als Leuchtturmprojekt der Kulturstiftung des Bundes (KSB) zu finanzieren, war Teil einer umfangreichen bundespolitischen Neuaufstellung der Berliner Kulturlandschaft im Jahr 2002. Ihre Frage ist deshalb vor allem eine ordnungs- und finanzpolitische, die sich an unseren Träger richtet, nämlich den Bund. Alle Erfahrungen, die bisher in der Zusammenarbeit mit der KSB gesammelt wurden, sind positiv, und unsere inhaltliche Zusammenarbeit mit der Stiftung funktioniert famos – auf allen Ebenen. Denn dort arbeiten in allen Bereichen kunst- und kulturverständige Menschen. Die Leuchtturmförderung selbst wird jeweils für mehrere Jahre beschlossen. Ich habe großes Vertrauen, dass die Öffentliche Hand, die Kulturstiftung des Bundes und auch ihr Stiftungsrat das Theatertreffen, das es seit 60 Jahren in verschiedenen Förderkonstellationen gibt, auch weiter unterstützen und ermöglichen wird. Allerdings fehlt bei fixen Förderbeträgen über mehrere Jahre die Flexibilität, auch auf unvorhergesehen hohe Preissteigerungen reagieren zu können, wie etwa in der jetzigen Inflation. Das Problem haben aber nicht nur wir.
FW Was wünschen Sie sich fürs nächste Theatertreffen?
Pees Eine tolle Programmauswahl durch die Jury der sieben Kritiker:innen, die uns hilft, das Publikum mit dem Festival zu begeistern. Und dass das, was die nominierten Inszenierungen aus Sicht der Jury bemerkenswert macht, überzeugt!
FW Und was wünschen Sie sich für ihren Kaltstart? Sie leiten bisher die Hamburger Lessingtage und springen ab Januar ja wirklich von Null auf Hundert ins eisige TT-Wasser.
Hertlein-Hull Zum einen vertraue ich natürlich auf das sehr professionelle TT-Team der Berliner Festspiele. Und von der Öffentlichkeit wünsche ich mir vor allem Wohlwollen, Interesse und Aufgeschlossenheit für alles, was kommt.

Theater heute November 2023
Rubrik: Magazin, Seite 66
von Franz Wille
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