Vom rasenden Übermut
Wir leben», beginnt Elfriede Jelineks Text «Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024)». «Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht nach Verlassen der heiligen Heimat.
» Dass diese Sätze bei Johan Simons, der den vergleichsweise schlanken 39-Seiter der Literaturnobelpreisträgerin am Schauspielhaus Bochum zur Uraufführung gebracht hat, gleichzeitig auf Ukrainisch, Arabisch, Griechisch, Deutsch und in gefühlt siebenundzwanzig weiteren Sprachen erklingen lässt, macht schlagartig klar, wie ernüchternd sich Kriege multipliziert und Krisen zugespitzt haben in den letzten zehn Jahren; um wie viel düsterer die Weltlage insgesamt noch mal geworden ist. Bereits 2013 – noch vor der so genannten «Flüchtlingskrise» – hatte Jelinek sich unter dem Titel «Die Schutzbefohlenen» auf der antiken Folie der «Schutzflehenden» des Aischylos mit den Schicksalen Geflüchteter auseinandergesetzt und die europäische Migra -tionspolitik angeklagt. 2014 wurde das Stück von Nicolas Stemann beim Festival «Theater der Welt» in Mannheim uraufgeführt – und ab Ende 2015 von der Autorin bereits mit Ergänzungen versehen.
Mit «Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024)» hat Jelinek nun ein eigenständiges Text-Update verfasst. «Dank an: Correctiv» steht darunter, denn der unmittelbare Schreibanlass ist jenes Treffen rechter Politiker, Unternehmer und Ärzte vom November 2023 in der Potsdamer Villa Adlon am Lehnitzsee, das undercover vom besagten Medienunternehmen – von «Journalisten mit Hör- und Sehrohren in schwimmenden Saunen», wie es bei Jelinek heißt – beobachtet und anschließend für die Öffentlichkeit rekonstruiert wurde. Der dort vom Chef der Identitären Bewegung Martin Sellner zu Gehör gebrachte «Masterplan» zur «Remigration» Geflüchteter in eine «Musterstadt» in Nordafrika, Ausbildungs- und Sportangebote inklusive, wird zum Grundmotiv für Jelineks Textfläche.
Je nach Wetterlage
Die kompiliert zwar, wie schon die Urversion, bewusst viele und mitunter auch konträre Stimmen, nimmt aber hauptsächlich die Perspektive der Geflüchteten ein – und den «Meisterplan», der hier nicht nur eingedeutscht, sondern auch mit dem Zitat vom «Meister aus Deutschland» aus Paul Celans «Todesfuge» verknüpft wird, entsprechend auseinander: «Wir sollen Musterbürger in einem Musterstaat werden … Endlich einen Beruf erlernen in Afrika, wo so viele Berufe gar nicht benützt werden, die ergreifen dann wir, gibt es was Schöneres?», schlagen die Bühnenakteurinnen und -akteure mit rhetorischem Zynismus zurück. Es sind reale Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte verschiedenster Nationalitäten, teilweise aus der Theatergruppe «We Are Here» von Yazan Abo Hassoun, sowie die Bochumer Ensemblemitglieder Jele Brückner, Konstantin Bühler, Danai Chatzipetrou und Michael Lippold, die, je nach Wetterlage, draußen auf den Eingangsstufen zum Bochumer Schauspielhaus oder, wie in der von mir besuchten Vorstellung, auf einer schlichten Stuhlreihe im oberen Foyer sitzen, gekleidet in T-Shirts, auf denen in ihren jeweiligen Muttersprachen «Wir leben» steht, und ausgestattet mit Aktenordnern, aus denen der Text vorgelesen wird.
Simons’ Inszenierung, die man ohne Eintrittskarte kostenfrei besuchen kann, ist in jeder Hinsicht minimalistisch: Einen Fünfzigminüter mit Lesungscharakter hat der Bochumer Theaterchef aus dem 39-Seiter destilliert, dessen bewusst sparsame Inszenierungsentscheidungen zum einen den appellativen Anklageges -tus des Textes unterstreichen: «Voll rasenden Übermuts verehren die Menschen die Falschen, immer die Falschen, die sich ihnen nähern, sich dem Volk nähern als seine künftigen Herrscher», adressiert der Chor mehrfach und mit wachsender Lautstärke und Eindringlichkeit gleichsam die kollektive AfD-Wählerschaft unter den Zeitgenossen (die bei der diesjährigen Europawahl in Bochum bei 11,9 Prozent und damit um zweieinhalb Prozent höher als 2019 lag). Das Motiv des «Rasenden» verrät auf der Textebene neuerlich Antiken-Anleihen, diesmal bei den «Bakchen» des Euripides.
Die zweite wichtige Regie-Entscheidung, die Simons trifft, ist die Arbeit an Perspektivverschiebungen: «Wir – sie» – auch dieses verbale Gegensatzpaar, in dem sich reale Ausschlussmechanismen versprachlichen und das schon zu den Leitmotiven in der 2013er Version der «Schutzbefohlenen» gehört hatte, wird zu einem frühen Zeitpunkt des Abends mehrfach chorisch ins Publikum geschleudert – um die Sichtachsen anschließend produktiv zu verwirren: Wenn Textteile auf Ukrainisch oder Arabisch vorgetragen werden, ist es plötzlich das deutschsprachige Publikum, das buchstäblich außen vor bleibt, weil es die Worte und Codes nicht versteht. Eingespielte oder von den Geflüchteten selbst gesungene Lieder aus ihren Herkunftsländern individualisieren zudem die Migrationsgeschichten und differenzieren die Landeshistorien, die – auch dies ein großes Thema im Jelinek-Text – gern mit binneneuropäischer Arroganz pauschalisiert werden.
Manuela Infante: 159 Identitäten
Wer speziell an diesem Punkt vertiefend einsteigen möchte, bekommt an einem weiteren Abend am Bochumer Schauspielhaus die Gelegenheit. Manuela Infantes Produktion «100% peruanisch-amazonisches Haar» in den Kammerspielen entflicht nämlich ganz buchstäblich 159 weltumspannende Identitäten, die in ein in Westeuropa – zumal im Theater – hoch frequentiertes Importprodukt verwoben sind: die Echthaar-Perücke.
Der Ausgangspunkt von Infantes gleichermaßen klugem wie gewitztem Abend ist die Klage einer 62-jährigen Schauspielerin über ihren krankheitsbedingten Naturhaarverlust, der zunächst bemerkenswerte Schlaglichter auf die brancheneigenen Arbeitsverhältnisse wirft: «Du darfst deine Haare nicht schneiden», fährt da ein fiktiver Theaterchef einer Spielerin in die Parade, die sich allen Ernstes der naiven Vorstellung hingibt, freie Verfügungsgewalt über ihr eigenes Haupt zu be -sitzen: «Dein Kopf gehört dem Theater … Das steht im Vertrag.»
Die realkapitalistischen Vertrags- und Angestelltenverhältnisse sind aber nur ein winziger Strang dieses komplexen Abends, der sein Thema – die haartypische Verknotung und Verflechtung – auch performativ mustergültig ausspielt. Spätestens wenn die haarausfallgeplagte Schauspielerin beschließt, ihrem Problem mit einer Fair-trade-Bio-Perücke beizukommen, bringt Infante – gleichermaßen Autorin wie Regisseurin des Projekts – in höchst konkreter Weise sämtliche virulenten Diskurse ins Spiel: Am Handel mit dem titelgebenden «peruanisch-amazonischen Haar», dem Goldstandard der Branche, lassen sich globale Ausbeutungsverhältnisse ebenso konkret festmachen wie feministische Sujets: «Die Haareintreiber überfallen die Bio-Mädchen beim Wasserfall», erzählen sich die Akteurinnen und Akteure auf der Bühne gegenseitig, «mit Waffen». Verwoben wird aber auch das Frauenrechtsthema des globalen Südens mit dem Weiblichkeits -stereotypen-Konglomerat des Nordens: Als die 62-jährige Schauspielerin mit dem Haarausfall ihrem Chef eröffnet, dass sie nicht krank -geschrieben werden, sondern liebend gern weiterarbeiten möchte, weil die Bühne ihr Le -benselixier sei, bekommt sie von ihm in einem freundschaftlich-mitfühlenden Ton, der die Botschaft umso übergriffiger macht, zu hören: «Du hättest wirklich Kinder kriegen sollen.»
Feste Rollen gibt es an diesem Abend nicht. Sondern sechs grandiose Ensemblemitglieder – William Cooper, Gina Haller, Veronika Nickl, Abenaa Prempeh, Jing Xiang und Lukas von der Lühe – reichen sich die Spiel- und Rede -figuren auf offener Bühne hin und her, manchmal wird eine Passage mehrfach wiederholt, und zwar von verschiedenen Akteurinnen in je eigenem Duktus, so dass man denselben Sachverhalt zum Beispiel gleichzeitig als Tragödie und böse Farce vermittelt bekommt, was tatsächlich wohltuend undidaktisch den Erkenntniswert erhöht. Einer der Höhepunkte dieses dichten 90-Minüters ist zweifelsohne das Reenactment einer Familienszene am Tisch Ludwigs XIV., wo – mit Gina Haller als energischer Königsmutter – dessen verfrühte Er -kahlung in allen Facetten und (für potenziel -le Haarlieferantinnen bösen) Konsequenzen durchbuchstabiert wird: ein großartiges Beispiel, wie Aufklärung mit Erkenntnisgewinn und ohne jede Zeigefingererhebung im Theater funktionieren kann.
NÄCHSTE VORSTELLUNGEN:
Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024),
Schauspielhaus Bochum: keine Vorstellungen im August/September
100 % peruanisch-amazonisches Haar, Schauspielhaus Bochum: 25. September
www.schauspielhausbochum.de
Theater heute August/September 2024
Rubrik: Aufführungen, Seite 15
von Christine Wahl
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