Stadttheaterkollektiv Erbsstadt
Theaterarbeit und die Frage nach den Hierarchien ist ein diskursiver Dauerbrenner. Heute heißt es oft, «die hierarchischen Strukturen» innerhalb der Theaterorganisationen müssten als Wurzel vieler Übel des professionellen Theaterschaffens begriffen werden, das ganze (weißmännliche) Machtsystem sei toxisch, korrumpiert, mindestens undemokratisch, «verkrustet» usw.
Heißt, in der Stadttheaterstruk -turkritik tummeln sich verschiedenste Positionen, nicht selten verwir -ren sich Begriffe und Problemanalyseebenen, der Gegner erscheint oft unscharf: Ist es dieser spezielle «machtmissbrauchende» Intendant, ist es die «Theaterleitung-als-Boss»-Konstruktion oder die Idee des Kunstauftrags mit Festanstellung, oder muss einfach «Macht» im Theater generell machtkritisch abgelehnt werden?
Unabhängig von einer genauen Analyse des Hierarchieproblems im Theaterbetrieb hält sich ebenfalls schon lange die egalitäre Idee, Theaterarbeit sei Kollektivarbeit, und eben das solle sich auch in der Betriebsstruktur eines Theaters spiegeln. Wäre das ein Ausweg aus der fragwürdigen Freiheit, die eigene Unterwerfung genießen zu dürfen – immerhin «für die Kunst» oder «die höhere Sache» – oder selbst Chef:in werden zu wollen? Zeigen nicht tatsächlich die Kolleg:innen von She She Pop und anderer Performancekollektive seit Jahrzehnten, dass eine langfristig zusammenarbeitende Gruppe, die gemeinsam lernt, sich umeinander sorgt und vielfältige Begabungen bei allen vermutet, künstlerisch erfolgreich sein kann? Warum also konnte diese Form der Zusammenarbeit bisher nicht dauerhaft auf ein ganzes Haus übertragen werden?
Die Antwort wäre komplex. Aber um wenigstens einmal anzufangen: Ins Auge sticht sofort, dass eine Kollektiv genannte Gruppe immer eine überschaubare Anzahl an Personen umfasst. Sowjetische Sozialpsychologen, die sich mit der Bildung, Funktionsweise und Auflösung von Kollektiven beschäftigt haben, vermuteten, dass etwa zehn Individuen die ideale Größe seien, darüber hinaus zerfalle das Kollektiv meist in neue Unterkollektive. Die müssten also durch irgendeine übergeordnete Instanz oder Idee verbunden und «koordiniert» werden.
Die sozialistische Idee des Kollektivs oder der Brigade setzte zwar den solidarischen Gruppenzusammenhalt voraus, war aber kaum antiautoritär oder diskussionsorientiert (wie in den freiwilligen Kollektiven in kapitalistisch geprägten Gesellschaften oft der Fall), sondern in erster Linie pragmatisch effizienz- und leistungsorientiert: Man interessierte sich dafür, wie durch den vollen körperlich-geistig-emotionalen Einsatz jeder und jedes Einzelnen ein staatlich vorgegebenes Planziel (über)erfüllt werden könnte. Dank des «freundschaft -lichen» Wettbewerbs zu anderen Kollektiven, der sicher individuelles Geltungsbedürfnis ein Stück weit zurückdrängte, war auch die Idee von Konkurrenz nicht grundsätzlich abgeschafft. Natürlich sollte jede:r Einzelne Wissen und Fähigkeiten im Kollektiv teilen , aber die frühere Parole: «Alle machen alles», die in den 1970ern in einigen westlich geprägten Kollektivgruppen zur Annahme geführt hatte, dass alle alles lernen sollten (auch zur Verhinderung von «Herrschaftswissen») und jede:r routierend jede Aufgabe einmal übernehmen müsste, war längst als äußerst ineffizient erkannt worden. Es brauche Spezialisierung der Expertise der Einzelnen, die sich beständig vertrauensvoll kollegial austauschen müssten – deshalb habe es niemand nötig, «alles» zu überschauen, wie etwa Manfred Wek -werth 1970 im Arbeitsheft «Theater und Wissenschaft» erklärte. (Für den korrekten Überblick gab’s aber dann doch: Kollektivleiter:innen.)
M.W. war es auch, der 1971 «die große E.H.» (Elisabeth Hauptmann) lobte, die «beste, ja zuverlässigste und bescheidenste Schülerin von Brecht», die trotz beachtlicher Leistungen im Kollektiv Brecht nie nach ihrem Anteil gefragt habe. Eben das sei «der große Vorzug kollektiver Arbeit»: «daß ‹Anteile› nicht zu nennen sind». – Damit wären wir bei der Frage der Autor:innenschaft, die sich bei künstlerischer Kollektivarbeit stellt. Es ist denkbar, dass sich sehr gut zusammenarbeiten lässt ohne Öffentlichkeit für den eigenen Namen, solange der Produk -tionszusammenhang intern Anerkennung und finanzielle Sicherheit verspricht und nicht etwa permanent individuell sichtbarer Erfolg erworben werden muss, um als frei flottierende:r Einzelkünstler:in immer neue Arbeitsangebote zu finden. Heißt auch, dass Einzelne No-Names bleiben und das vertraute Liebe/Lohn gebende Kollektiv eventuell nur schlecht wieder verlassen können.
Aber stellen wir uns vor, es wäre möglich: Mensch könnte mit seinen Kolleg:innen lebenslang Mitglied des – sagen wir mal – 150-köpfigen Stadttheaterkollektivs Erbsstadt bleiben, das frei wäre von Egomanie und Konkurrenzkämpfen, künstlerisch progressiv und in gesellschaftlichen Fragen engagiert ... Das Erbsstädter Stadttheaterkollektiv wäre zusammengesetzt aus verschiedenen Kollektiv -abteilungen, immer gleichbleibend gut von der öffentlichen Hand finanziert, würde nur wenig produzieren – denn Zusammenarbeit ohne Ansage von oben braucht Zeit – und wäre – auch wegen der Knappheit des Angebots – immer gut besucht. Ab und zu würde es auf Gastspielreisen gehen und Gastkollektive einladen, um ein bisschen frischen Wind unter die Nasen zu bekommen. Perfekt?
Blieben die Gretchen-Fragen des gemeinsam entscheidenden, im geteilten Wertekosmos angesiedelten Kollektivs: Wie hält man’s mit der diversity? Wer dürfte Mitglied sein? Wer müsste es? Und wer flöge raus?
Anna Volkland studierte Dramaturgie und Tanzwissenschaft und arbeitet(e) als Dramaturgin für Tanz und Theater, schreibt für Fachmagazine und unterrichtet u.a. erweiterte Aufführungsanalyse und Theatergeschichte. 2014 bis 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste Berlin, wo sie zu Demokratisierungsversuchen und Institutionskritik im Stadttheater der früheren BRD und DDR zu forschen begann.

Theater heute Mai 2023
Rubrik: Magazin, Seite 87
von Anna Volkland
Anmerkungen:
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