Spieglein an der Wand

Shakespeare «Was ihr wollt» (Schauspielhaus)

Sie gleiten wie schlafwandelnde Eisläufer über die Bühne und passieren Spiegel, in denen sie wie flüchtige Erscheinungen auftauchen. Gelegentlich wandeln sie auch wie Pärchen, dann allerdings verschwindet plötzlich einer von ihnen hinter einem der Spiegel und wird scheinbar verschluckt. Da hat man den Eindruck, Mannheims Schauspielchef Burkhard C. Kosminski habe Shakespeares Gender-Illyrium beim Schopf gepackt und das Vexierspiel prekärer erotischer Identitäten als Spiegelkabinett des Scheiterns inszeniert.

Hier findet vorerst kein Deckelchen sein Töpfchen und das Spieglein an der Wand sagt lange nur: Kein Begehren hier im ganzen Land.

Dumm gelaufen. In Shakespeares Illyrien ist zwar viel Begehrlichkeit unterwegs, bei keinem der potenziell Liebenden reicht es aber zum bedingungslosen Begehren. Und so finden am Ende dann auch genau diejenigen zueinander, die bis dahin gar nicht wussten, dass sie überhaupt füreinander in Frage kommen. Das hat was Schales, als habe eine überforderte Dating-Agentur aus Gründen der Ökonomie mal schnell eins und eins zusammengezählt. Die schiffbrüchige Viola etwa, die im fremden Land als verkleideter Cupido unterwegs ist, bekommt den Herzog, für den sie ...

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Theater heute August / September 2010
Rubrik: Chronik, Seite 74
von Jürgen Berger

Vergriffen
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