Sit-ups fürs System
«Unter Ihrem Stuhl befindet sich eine Virtual-Reality-Brille.» Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt wie die automatisierte Ansage im Flugzeug, die auf Sauerstoffmasken hinweist, die man sich bei sinkendem Luftdruck über Mund und Nase stülpen soll. In «Wonderland Ave.» am Staatstheater Augsburg ist es eine sperrige VR-Brille, die man sich zu Beginn des Abends über den Kopf stülpt. Und die Umstände, die Autorin Sibylle Berg in diesem dystopischen Zukunftsszenario zeichnet, sind sogar noch dra -matischer als sinkender Luftdruck.
Es ist die überspitzte Erzählung vom Untergang des Humanismus.
Was sich im 360°-Kosmos der Brille dann auftut, wirkt erstmal enttäuschend banal: Fliegende Flamingos und pinke Petunien schweben vor kaleidoskopartigen Visuals durch den von Benjamin Seuffert kreierten virtuellen Raum. Ist das das Wunderland? Der letzte Versuch einer lebendigen Erinnerung an ein Leben in inten -siven Farben, in dem es ums Fühlen ging, statt ums Funktionieren? Bevor es zu sentimental wird, fordert eine Stimme aus dem Off dazu auf, die rosarote Brille wieder abzunehmen, denn: «Ein neuer Tag mit großartigem Kräftemessen wartet auf Sie!» Sie, das meint uns, das Publikum. Es meint aber auch die «Person (unklaren Geschlechts)», die als einzige Darstellerin auf der runden Bühne unter einer silbernen Rettungsdecke hervorkriecht.
Willkommen in einer Welt, in der sich Wert an Wettbewerb misst und Sit-ups Sinn stiften sollen: Die Wonderland Avenue, eine All-inclusiveAnstalt zum Verlernen zwischenmenschlicher Verantwortung. Hier, im Überrest einer konsumsüchtigen Welt, haben nicht mehr menschliche Machthaber die Kontrolle, sondern Künstliche Intelligenzen. Ihre Stimmen, eingesprochen vom Ensemble des Augsburger Staatstheaters, sind in Lukas Joshua Bauereggers Inszenierung über Lautsprecher zu hören. Im permanenten Optimierungswahn reden die Maschinen auf «Person» ein, die von Mirjana Milosavljevic gespielt wird: «Präzisieren Sie Freiheit!»
Die Silberfolie knistert unter ihren schneller werdenden Schritten, wenn Mirjana Milosavljevic verzweifelt und frustriert um das in der Mitte stehende Bett jagt. Mit jeder Umdrehung redet sie sich in kraftvollen Monologen mehr in Rage: «Den Kampf um ein letztes bisschen Menschlichkeit» nennt Person ihren Protest gegen die technokratisch gesteuerte, emphatisch entleerte Gesellschaft, die von Bildschirmen und Bauch-Beine-Po am Leben gehalten wird. Die KI verkauft ihr Programm als Challenge, als Wettbewerb, zu dessen Preisverleihung auch das Publikum eingeladen wird: VR-Brille wieder auf, und der Bühnenraum wird zur geprompteten Kulisse in Sci-Fi-Optik, ein spürbar beklemmender Escape Room. Am Ende bleibt man als Betrachter:in durchs Universum schwebend zurück. Von diesen VR-Momenten, in denen Realität und Fiktion erschreckend unkontrollierbar verschmelzen, hätte es mehr geben können.
Person: «Gibt es überhaupt noch eine Zukunft für irgendwen da draußen? Musk? Zuckerberg?» Knistern. «Fehler 404» nennt die Künstliche Intelligenz den Zustand logarithmisch nicht erfassbarer Ungewissheit, den Sokrates Jahrtausende vor der Erfindung digitaler Technik mit «ich weiß, dass ich nichts weiß» beschrieb. Aber vielleicht liegt darin die Kraft des Menschseins, die der Abend trotz seiner Ausweglosigkeit spürbar macht: «Ich bin widersprüchlich. Der Vorteil von Biomenschen. Sie sind nicht berechenbar.»
www.staatstheater-augsburg.de

Theater heute Juli 2025
Rubrik: Chronik, Seite 56
von Ella Rendtorff
BEDBURG-HAU, MUSEUM SCHLOSS MOYLAND
ab 13.7., Marina Abramovic & Mai im Dialog mit Joseph Beuys
– Zentraler Fokus der Ausstellung liegt auf der ikonischen Performance «Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt» von Joseph Beuys aus dem Jahr 1965 und ihrer Re-Performance durch Marina Abramovic 40 Jahre später. In ihrer legendären Performance-Serie «7 Easy Pieces» (2005) im New Yorker...
Widder – sind widerständig. Setzen ihren Kopf durch, um jeden Preis. Wie anders hätte die Forscherin Jane Goddall 23 Jahre lang warten können, um für wenige Monate als unterste Schimpansin in einer Affenhorde mitzulaufen? Oder Proto-Nazi Bernhard Förster seine «arische Kolonie» Nueva Germania in Paraguay als Dystopie mit Durchfall und Drama jahrelang durchgezogen (bevor er sich...
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