Im Land der Täter

​​​​​​​In Berlin fand das erste internationale Rom:nja-Theaterfestival statt

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In der Mitte der Videothek in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, zwischen weißen DVD-Displays, Kunstpflanzen, Stapelstühlen und Filmplakaten, liegt ein roter Teppich auf dem Boden, darauf warten große Haushaltsscheren.

Während Charlie Chaplin auf dem großen Screen im Hintergrund einen Monolog in Schwarzweiß hält – seine berühmte «Rede an die Menschheit» aus der Hitler-Satire «Der große Diktator» von 1940 –, dreht sich der ungarische Performer Sebastian Spinella um sich selbst und wickelt sich dabei so lange in rot-weißes Absperrband ein, bis er dahinter verschwindet – und das Publikum ihn mit den Scheren befreien muss.

Spinellas kurze Performance «Ukraine 22 – Cut!» will damit auf die besonders verzweifelte Lage aufmerksam machen, in der sich die ukrainischen Rom:nja seit der russischen Invasion befinden: Manchmal ohne Papiere oder mit doppelter Staatsbürgerschaft, werden sie an der Grenze an der Flucht gehindert oder sind rassistischen Übergriffen ausgesetzt. Sie sind Symptom eines gesellschaftlich tief verwurzelten Antiziganismus. Aber nicht nur in der Ukraine, sondern auch hier in Deutschland – und in anderen Fluchtländern – haben Rom:nja keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Aufenthaltstiteln, menschenwürdigem Wohnraum, Bildung oder Sozialleistungen, wie das Monitoring der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) berichtet. – Nach der Performance zeigt Spinella dem Publikum Fotos aus der Ukraine. Sie zeigen eine Gruppe von Menschen, die an einen Beton-Lampenpfeiler gefesselt sind – mit Absperrband.

Die größte Minderheit Europas
«Ich lebe im Land der Täter, die eine halbe Million Sinti* und Roma* in Konzentrationslagern vernichtet haben», erklärt Hamze Bytyçi im Gespräch, Mitgründer und Vorsitzender von Roma-Trial e.V., der seit der Spielzeit 2022/23 den Grünen Salon der Volksbühne betreibt. 1982 in Prizren im Kosovo geboren, flüchtete er 1989 mit der Familie nach Deutschland. Seit 2017 organisiert er das jährliche Rom:nja-Filmfestival «AKE DIKHEA?» («Na siehst Du?») und war 2018 Co-Kurator der ersten Biennale von und mit Roma-Künstler:innen aus ganz Europa im Maxim Gorki Theater. Auch dank des Vereins hat sich Berlin in den letzten Jahren zu einem wichtigen Treffpunkt und Standort für künstlerische Selbst-Repräsentationen von Rom:nja entwickelt.

Ihr erstes internationales Theaterfestival in Berlin, eine Kooperation von RomaTrial, Ballhaus Ost und der Volksbühne, versammelte nun unter dem programmatischen Titel «COMMON TONGUE» acht Performances aus Deutschland, Italien, Rumänien, Ungarn und Tschechien, um dieser gemeinsamen Sprache nachzuspüren, die Rom:nja miteinander verbinden könnte – transnational und jenseits der allgegenwärtig fühlbaren Vorurteile und Stereotype. «Das ist angesichts einer jahrhundertealten Geschichte der Diskriminierung gar nicht so einfach», erklärt Bytyçi. «Dabei sind wir die größte Minderheit in Europa.» In Deutschland leben ungefähr 60.000 Sinti:zze und 10.000 Rom:nja als anerkannte Minderheit – als Deutsche – neben den Sorb:innen, der friesischen Volksgruppe und der dänischen Minderheit. Doch 80 Prozent der in der EU lebenden Rom:nja tun das unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle ihres Landes. Das Festival wagt einen Balanceakt zwischen einer gemeinsamen Rom:nja-Identität als selbstbestimmte Andersheit und den weit verbreiteten gesellschaftlichen Stigmatisierungen.

Verdrängte Lebensleistung
In Ungarn ist das 2007 gegründete Independent Theater Hungary eine wichtige Ankerposition in der nationalistisch geprägten Kultur- und Theaterlandschaft. Ihr Gastspiel «Builders of the Country», geschrieben und inszeniert von Rodrigó Balogh und Márton Illés, ist den «unsichtbaren Baumeister:innen der ungarischen Geschichte» gewidmet. In der schlichten, nur mit einigen Stühlen und einem Tisch ausgestatteten Raumbühne des Ballhaus Ost reist die Inszenierung zurück ins 20. Jahrhundert, das sie als Familien-Chronik in einzelnen Szenen skizziert.

Die Geschichte beginnt mit einem jungen Rom, der außerhalb des Dorfes lebt und mit seinem Vater Lehmziegel herstellt, um Häuser zu bauen. Es erzählt sich durch die Phase seiner Verliebtheit und der für einen Moment fast utopisch anmutenden Heirat mit einer Gadjo, einer Nicht-Rom:nja, hindurch, lässt den real existierenden Sozialismus in Ungarn auf der Bühne wieder auferstehen – samt der Rom:nja-typischen Arbeit in den Ziegelfabriken – und mündet chronologisch in den Entlassungen und neuen Formen gesellschaftlicher Diskriminierung nach dem Zusammenbruch des Systems.

Immer anschaulich, erst in fast komödiantischer Nähe zum Volkstheater, später als bedrückendes Kammerspiel, erzählt es, wie die Lebensleistung der Rom:nja für die Gesellschaft verdrängt, unsichtbar gemacht wurde. Dass sich die jüngste Generation deshalb ziemlich moralfrei auf den größtmöglichen Profit in der Immobilienbranche konzentriert, leuchtet unmittelbar ein: Geld macht (relativ) unabhängig und federt soziale Diskriminierungen zumindest ab.

Trauma prägt Intimität
Wahrscheinlich löst die Inszenierung «Trauma Kink» von Guivlipen, dem ersten feministischen Rom:nja-Theaterkollektiv aus Rumänien, unter traditionell patriarchalischen Rom:nja-Clans mehr Widerstand und Aufregung aus, als im Club-affinen, sexpositiven Berlin. Diesmal verströmt die Bühne im Ballhaus Ost gemäßigten Nacht-Club-Flair mit einem dekorativen Fadenvorhang in der Bühnenmitte als Eyecatcher für viele bunte Lichteffekte. Diverse Performer:innen haben sich im Bukarester Club «Trauma Kink» getroffen, um unter Anleitung von Coach Kitty Rhea einen zertifizierten «Konsent-Workshop» zu absolvieren. Wobei sich die trans Frau und Domina Angelina keine große Mühe gibt, ihre Absicht, neue Sexsklaven für ihr Business zu rekrutieren, zu verbergen. («Ich bin nicht daran interessiert, über Diskriminierung oder Transphobie zu sprechen. Ich habe keine Zeit, die Welt zu verändern oder zu retten. Es sei denn, ich werde dafür sehr gut bezahlt.»)

Zu Beginn treten alle in einheitlich beigen Trenchcoats auf, doch die individuellen Abgründe und Traumata – und die Konflikte unterein -ander – treten ebenso schnell in den Vordergrund, wie der Trenchcoat kinky Leder-Kostümen oder einem Ballerina-Outfit weicht: «Wir hoffen, dass wir gemeinsam einen Raum schaffen können, in dem sich jeder sicher fühlt», erklärt Kitty noch vorsorglich. Dann erzählen die Performer:innen mit wechselndem Fokus ihre Geschichten, umkreisen ihr persönliches Trauma, bekennen sich zu ihren Verletzungen vor den anderen und dem Publikum – immer wieder unterbrochen von mitreißenden Rap- und Tanz-Acts. Es sind Geschichten wie die des verheirateten Mannes beispielsweise, der in einem strikt konservativen Umfeld lebt und sein Schwulsein entdeckt. Oder die Germaphobie der Frau, die Angst sich mit Viren oder Bakterien anzustecken, die sie in der Corona-Zeit überwältigt hat. Es geht um sexuellen Missbrauch – den es auch unter Frauen gibt.

Wie Intimität und Begehren von diesen zutiefst verletzenden Erfahrungen geprägt werden, und dass bestimmte Kinks ebenso wie der Mut, zu der eigenen Verletzlichkeit zu stehen, heilsam sein können – davon erzählt dieser Abend. Auch wenn am Ende alle in die Klimawandel-induzierte Apokalypse driften, möchte die Performerin Luna die Gelegenheit nicht verpassen, «NEIN zu sagen. NEIN zu sagen für all die Zeiten, in denen ich nicht NEIN sagen konnte. Ich sage NEIN für all unsere Mütter und Großmütter, die niemand gefragt hat, für unsere Roma-Vorfahren, die keine Wahl hatten, und für alle Frauen, die nach uns kommen und nicht um Zustimmung gebeten werden.»

«Was wir brauchen, ist zuerst einmal eine Bestätigung, dass wir existieren dürfen. Wir wollen natürlich Geschichten für die Zukunft erzählen, aber haben noch gar nicht die Möglichkeit gehabt, über die Vergangenheit zu sprechen», erklärt Hamze Bytyçi sein kuratorisches Konzept für das Festival. «Was wir brauchen, sind Erfahrungen von Selbstermächtigung.» 


Theater heute August/September 2024
Rubrik: Magazin, Seite 66
von Anja Quickert

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