Grundrechenart Addition
Wer sich noch an die Nuller Jahre erinnert, als Deutschland ökonomisch als «kranker Mann Europas» galt, eine Rezessionsrunde die nächste einläutete, worauf der SPD-Kanzler Schröder die «Agenda 2010» und «Hartz IV» erfand, für 20 Jahre die sozialpolitische Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie verspielte und der Neoliberalismus ein gutes Jahrzehnt lang seine kalte Schulter von der besten Seite zeigen durfte – aufgepasst! Es geht wieder los!
Heute wie damals sind es die «freiwilligen Leistungen» der Länder und Kommunen, an denen das Sparmesser angesetzt wird, an vordere
r Stelle dabei: die Kultur. Beispiel Berlin, wo man allerdings etwas verspätet mitbekam, was die Stunde geschlagen hat. Als im Herbst 2023 der Doppelhaushalt 2024/25 aufgestellt wurde, herrschte noch eitel Sonnenschein. Die neuen Koalitionäre aus CDU und SPD klopften sich gegenseitig kräftig auf die Schultern, genehmigten sich einiges – darunter 300 Millionen Euro für Franziska Giffeys Lieblingsprojekt, ein 29-Euro-Ticket im Öffentlichen Nahverkehr, deutschlandweit einmalig! – und ließen die Grundrechenart Addition keinen Spielverderber sein. Keine neun Monate später war der Etat schon um gut 10 Prozent aus dem Ruder gelaufen. Dabei war von den besonderen Belastungen der öffentlichen Haushalte – Tarifsteigerungen, Inflation, Zuwanderung – nichts unvorhersehbar. Die Energiepreise sind sogar unverhältnismäßig deutlich zurückgegangen.
Aus Hintergrundgesprächen hört man, die neue Koalition unter dem wenig regierungserfahrenen Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und der SPD-Spitzenkandidatin habe vor einem Jahr auf gut Glück und um unbedingte Handlungsfähigkeit zu beweisen eben recht optimistisch budgetiert. Und Kultursenator Joe Chialo, sonst durchaus additionsfähig, habe – ebenso regierungsunerfahren – gedacht, man mache das in der Politik eben so. Wahnsinn? Hauptstadt!
Jetzt müssen ruckzuck ab Januar 120 bis 150 Millionen Euro – genauer weiß es derzeit zumindest öffentlich niemand –, also insgesamt ca. 10 Prozent des Kulturetats von jetzt auf gleich eingespart werden. Und ab Januar 2026 mutmaßlich – weiß auch noch keiner so genau – noch einmal so viel. Wie das allerdings gehen soll bei Betrieben wie Stadttheatern oder Opernhäusern, deren Haushalte bis zu 90 Prozent fest in Personalmitteln gebunden sind und deren künstlerische Manövriermasse ohnehin nur 10 Prozent beträgt – über die schon viele Verträge mit Künstler:innen abgeschlossen sind –, kann im Berliner Kultursenat niemand beantworten. Stattdessen werden leicht kryptische Briefe von mehreren «Sparszenarien» an die Bühnen verschickt, hinter deren Beamtendeutsch sich schon jetzt de facto eine Haushaltssperre verbirgt: Die Einrichtungen werden aufgefordert, «Vorbindungen von Mitteln für das kommende Haushaltsjahr (z.B. Abschluss von Verträgen) bis zu einer Entscheidung über die Auflösung der pauschalen Minderausgaben ab sofort zu unterlassen».
Hat irgendjemand im Berliner Senat einen Plan? Bis dato ist nichts davon zu hören. Die Zeche müssen jetzt alle bezahlen, die planen können. Nämlich diejenigen, die aufgrund der zugesagten Mittel Verträge geschlossen, Absprachen getroffen, übers Heute hinausgedacht haben. Nicht zuletzt die Künstler:innen, deren Verträge gerade gebrochen werden sollen oder die eben keine mehr bekommen.
Dagegen hat sogar der Deutsche Bühnenverein zu einer Petition aufgerufen, die bei Redaktionsschluss schon über 50.000 Unterschriften zählt. Die Pointe dabei: Im Bühnenverein sind zwar die Intendant:innen mitvertreten, den Ton geben aber die Rechtsträger an – also Länder und Kommunen, die die Zuwendungen bereitstellen. Und bis dieser Bühnenverein gegen seine eigenen Sparinteressen eine Petition ausruft, muss viel passieren!
Standort München
Aber nicht immer nur auf die Hauptstadt schimpfen, denn auch in München, der Söderbayerischen Vorzeigemetropole, droht nach dem alljährlichen Oktoberbierfest ein schwerer Kater. Die Spielzeit beginnt mit einer ökonomischen Vollbremsung: Auch dort sollen 2025 9 Prozent des Kulturetats gekürzt werden oder 16,9 Millionen Euro nach bereits 18,8 Millionen im laufenden Jahr. Auch dort stehen plötzlich Zuwendungen in Frage, mit denen die Bühnen fest gerechnet hatten, fest rechnen mussten und entsprechend vorgeplant haben. Die Reaktionen aus den städtischen Bühnen Kammerspiele und Volkstheater klingen entsprechend verzweifelt. Kammerspiele-Intendantin Barbara Mundel: «Diese Summen bedeuten das Aus für die Kammerspiele.» Volkstheater-Kollege Christian Stückl: «Was uns gerade passiert, das ist nicht tragbar für diesen Betrieb.»
Noch bleibt in den parlamentarischen Beratungen eine Gnadenfrist: Der Haushalt wird Ende November, spätestens im Dezember verabschiedet. Wir berichten weiter.
Theater heute November 2024
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Eva Behrendt und Franz Wille
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