Die Zerrissene
Das Leben als Kulturstaatsministerin ist eine große Herausforderung. Zum Beispiel das Kunststück, bei der Berlinale-Preisverleihung gleichzeitig zu klatschen und nicht zu klatschen. Als «No Other Land» des Israelis Yuval Abraham und des Palästinensers Basel Adra ausgezeichnet wurde, sprach Abraham von einer israelischen Politik der «Apartheid», und Adra warf der israelischen Politik vor, Palästinenser «abzuschlachten» (s. auch S. 47 in diesem Heft).
Roth saß im Publikum und hat geklatscht, aber am Tag darauf die Berlinale-Leitung mit heftigen Vorwürfen und Drohungen wegen unangemessener Israelkritik überzogen. Israel-Botschafter Ron Prosor sprach von «antisemitischen und israelfeindlichen Äußerungen». Auf ihren Applaus angesprochen, meinte Roth später im «Spiegel», sie habe weder für «Apartheid» noch für «abschlachten» applaudiert, sondern: «Meine Zustimmung fand der glaubwürdige Appell für eine politische Lösung und einen nachhaltigen Frieden.» Ziemlich komplex, dieser Staatsministerinnen-Applaus. Daran schließt sich für die in der einen oder anderen Weise in hohem Maß von der öffentlichen Hand geförderte Kulturszene Deutschlands die nicht unwesentliche Frage an, wieviel Israelkritik überhaupt erlaubt sei und ab wann man – möglicherweise zu Recht – mit dem Antisemitismus-Vorwurf konfrontiert wird. Die Antwort ist nicht weniger komplex dank einer Asymmetrie, die gerne unterschätzt wird: Israel ist keineswegs ein säkularer Staat wie Deutschland, in dem sich Kritik am Staat und Kritik an einer religiösen oder ethnischen Identität grundsätzlich trennen ließe.
Israelische Staatsbürgerschaft
Zwar gibt es auch in Israel nichtjüdische Staatsbürger – und zwar gar nicht wenige, ca. 20 Prozent der Bevölkerung –, die sich aber seit je über Diskriminierung beklagen und denen wesentliche staatsbürgerliche Rechte vorenthalten werden. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat zuletzt in «Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel» (Frankfurt/M. 2023) darauf hingewiesen: So gebe es nicht nur keine geschriebene israelische Verfassung, auf die man sich beziehen könne, sondern auch keine religionsneutrale «israelische» Staatsbürgerschaft: «Seit 1948 wird die Nationalität jüdischer Bürgerinnen als jüdisch, die muslimischer oder christlich-arabischer Bürgerinnen als arabisch und die von Nichtjüdinnen entsprechend ihrem Herkunftsland registriert.» Das Innenministerium habe eine Liste von über 130 möglichen Nationalitäten für israelische Staatsbürger erstellt, darunter jüdisch, arabisch, drusisch, .deutsch, albanisch und liechtensteinisch.» Aber: «Israelisch steht nicht auf der Liste.»
Der Oberste Gerichtshof, dessen Entscheidungen Verfassungsrang haben, wies 1972 die Klage eines Israeli zurück, amtlich als Israeli und nicht als Jude registriert zu werden: «Die Richter wiesen dieses Ansinnen mit dem Argument zurück, es gebe keine israelische Nation, nur eine jüdische.»
Darin besteht ein grundsätzlicher Unterschied zu Verfassungsrealität und Identität europäischer Staaten oder der USA, die sich eben nicht auf eine vorgängige religiöse Definition von Nation stützen, sondern auf eine staatsbürgerlich-republikanische. «Die dem Staate Israel vorausgehende religiöse Definition der Nation hat das Oberste Gericht von der Staatsgründung an bestätigt.» Noch ein bisschen drastischer for -muliert es der israelische Politikwissenschaftler Omri Boehm in Bezug auf das 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz: «A jewish state cannot be a liberal democracy.» (Omri Boehm, Haifa Republic. A Democratic Future for Israel. New York Review Books 2021)
Die Konsequenz ist klar: Für einen Staat, der sich als jüdische Nation versteht und jüdischidentitäre Praktiken pflegt, ist es potenziell immer möglich, die Kritik an diesem Staat als Antisemitismus zu interpretieren. Das eine ist aus dieser Perspektive immer auch das andere. Daran ändern selbst Hundertausende säkular denkende Israelis nichts, die im Sommer gegen die rechtsextrem-nationalistische Regierung von Benjamin Netanjahu und deren jüdisch identitäre Politik demonstriert haben.
Und spätestens seit Angela Merkel in Erinnerung der Shoah, des deutschen Völkermords an den Juden, die Existenz Israels etwas diffus zur deutschen «Staatsräson» erklärt hat, greift Israels Antisemitismus-Interpretation auch hierzulande. Denn damit wird die Existenz einer identitären israelisch-jüdischen Perspek -tive, aus der jede Israelkritik potenziell in den Antisemitismus kippt, auch deutsches Staatsziel. Was in vielen Fällen – siehe Berlinale – zu zweierlei Maß führt.
Genau in diesem schwer auflösbaren Widerspruch sitzt zurzeit reichlich eingekeilt Claudia Roth mit ihrer Applaus-Akrobatik. Und mit ihr viele andere deutsche Kulturpolitiker:innen wie die von deren «öffentlichen Händen» abhängige Kulturszene. Sie sind nicht zu beneiden, denn ihre Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.

Theater heute April 2024
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Franz Wille
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