Die Welt verschwindet
In einem kurzen Dialog ihres 1971 erschienenen Romans «Gift» (in Deutschland unter dem Titel «Abhängigkeit» erschienen) bringt Tove Ditlevsen das Grundproblem autofiktionalen Schreibens auf den Punkt. Das sei doch überhaupt keine Literatur, sie schreibe ja nur auf, was ohnehin offensichtlich sei. Im 1975 erschie -nenen Roman «Vilhelms Zimmer» (jüngst von Ursel Allenstein als «Die Abweichlerin» neu übersetzt) spricht Ditlevsen diesem Urteil Hohn.
Auch hier wird das tatsächlich Erlebte verhältnismäßig ungebrochen beschrieben, einzig leichte Verschiebungen lassen sich feststellen: Aus der Schriftstellerin Tove, die noch in «Gift» eins zu eins auftauchte, ist jetzt die Schriftstellerin Lise geworden, wobei betont wird, dass man diese leicht mit Tove verwechseln könne. Zum Beispiel so: Lise, die als Autorin durchaus erfolgreich ist, aber ihre Herkunft aus der Kopenhagener Unterschicht nie ganz hinter sich lassen konnte, wurde kürzlich von ihrem Mann Vilhelm verlassen, was damit korrespondiert, dass Ditlevsen zum Zeitpunkt der Niederschrift die Scheidung von Victor Andreasen verarbeitete.
Ist «Vilhelms Zimmer» also Autofiktions-Konvention? Eben nicht. Dass Ditlevsen 1975 eine unzuverlässige Beobachterin war, macht der Text schon zu Beginn deutlich – die schon früher notierten psychotischen Schübe der Autorin hatten sich damals deutlich verstärkt, ihre Weltwahrnehmung war ins Rutschen geraten. Das Schlimmste an einer psychischen Erkrankung sei nicht, dass man den Verstand verliere, heißt es einmal, das Schlimmste sei, dass der Verstand das einzige sei, was bleibe, während die Welt verschwinden würde. Und «Vilhelms Zimmer» ist entsprechend die Dokumentation eines langsamen Verschwindens, eines Kappens der Beziehungslinien zur Welt. Kurz nach Veröffentlichung, am 7. März 1976 nahm sich Ditlevsen das Leben, nach einem früheren (und auch im Roman beschriebenen) erfolglosen Suizidversuch.
Fixstern Lina Beckmann
Eigentlich hätte Karin Henkels Romandramatisierung «Die Abweichlerin» am 1. März, wenige Tage vor dem 49. Todestag der dänischen Autorin, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg ihre deutschsprachige Erstaufführung feiern sollen; wegen eines Streiks im öffentlichen Dienst wurde die Aufführung um knapp zwei Wochen verschoben. Und weil man Autofiktion im Grunde ständig auf Links zwischen Autor:innenbiografie und Text abklopft, fällt einem auch hier auf, dass die aus einfachen Verhältnissen stammende Ditlevsen Zeit ihres Lebens Sympathien für die Sozialdemokratie zeigte – streikende Bühnenarbeiter, das hätte dieser Autorin gefallen.
Der Inszenierung jedenfalls scheinen die zusätzlichen Probentage bis zur Premiere gut getan zu haben: Dicht und konzentriert wirkt die Handlung (die den detailreichen Roman auf einige wenige Motive verkürzt): Lise lebt also mit ihrem Teenager-Sohn in einer Pension, kämpft mit ihren inneren Dämonen und sucht per Zeitungsannonce einen neuen Partner, der im Grunde nur die Lücke füllen soll, die Vilhelm hinterlassen hat. Und zwar, indem er in Vilhelms Zimmer wohnt, dessen Kleidung trägt und irgendwie ein Halt für den Sohn ist, weil die Protagonistin längst die Entscheidung zum Suizid getroffen hat.
Henkel inszeniert konzentriert – sehr konzentriert – auf Lina Beckmann, die in «Die Abweichlerin» der Fixstern ist, um den alles kreist. Die übrigen Darsteller:innen werden dabei zu Stichwortgeber:innen degradiert, die mit grobem Strich gezeichnet sind, aber weil dieses Theater ebenso wie Ditlevsens Schreiben die eigene Position immer auch zu reflektieren weiß, wird auch das thematisiert. «Männerfiguren geraten mir oft ein bisschen karikaturenhaft», heißt es in «Vilhelms Zimmer», und wenn Beckmann diese Selbsterkenntnis mit nicht uneitlem Spott ausspricht, während sich um sie herum die Männer heftig karikaturenhaft aufführen, Daniel Hoevels als Sohn Tom, Mirco Kreibich als Vilhelm-Ersatz Kurt, dann ist das ein intelligentes Weiterdenken von Ditlevsens poetologischem Programm.
Formgebende Hässlichkeit
Henkel nimmt Ditlevsen also ernst, und sie hat auch verstanden, was an dieser Autorin ernstgenommen werden muss. Was die Inszenierung auf Dauer allerdings vor ein Problem stellt: Das, was hier zu sehen ist, ist Literatur. Im Grunde steht Beckmann ständig an der Rampe und spricht Prosatext ins Publikum, und nur weil diese Schauspielerin das so virtuos macht, wie man es von ihr kennt, voll echtem Schmerz, der unvermittelt von Ironie abgelöst wird, die ebenso unvermittelt in kalte Analyse kippt, übersieht man lange, dass hier etwas nicht stimmt.
Denn natürlich weiß Henkels Inszenierung auch, was sie an bühnenwirksamen Elementen auffahren muss, um zu überspielen, dass sie dem Theater eigentlich wenig zu geben hat. Also verändert sich Barbara Ehnes Bühne kontinuierlich, wird zum realistischen Wohnzimmer, das sich organisch ins desolate Innenleben der Protagonistin verwandelt. Einmal erinnert sie an einen Schaltkreis, der darauf verweist, dass die Wohnung später in einem EDV-Raum umgewandelt wird (was auf der inhaltlichen Ebene vollkommen irrelevant ist). Also gibt es rätselhafte, sich ununterbrochen im Hintergrund auf- und abbauende Soundflächen (Arvild J. Baud), also tanzt immer wieder ein Kinderballett durch die Szenerie (Choreografische Mitarbeit Valenti Rocamora i Torà), also schwelgen die Kostüme (Teresa Vergho) in ausgesuchter Hässlichkeit.
Allerdings, und da kommt die darstellende Kunst dann doch zu ihrem Recht, ist diese Hässlichkeit ein formgebendes Element des Abends. Praktisch jede Erfahrung, die die Protagonistin macht, ist geprägt von Grobheit und ästhetischer Unzulänglichkeit, und das muss dann gar nicht Kurt sein, den Kreibich tatsächlich als Karikatur zeigt, als daueronanierende Dumpfbacke mit Nicht-Frisur, grotesk falsch ausgewählter Kleidung und seltsam verwachsenen Hautfalten. Grob wird auch die neue Partnerin Vilhelms gezeichnet, von Linn Reusse mit peinlich bemühter Richtigmacherinnen-Attitüde ausgestattet. Weil wir allerdings diese durch die Bank wenig attraktiven Figuren ausschließlich mit den Augen Ditlevsens sehen, fällt das auch wieder auf die Autorin als einzige mit sich authentische Figur zurück: Die Frau, die Beckmann hier darstellt, ist selbstgerecht, keine Sympathieträgerin.
Ein einziges Mal wird die Perspektive der Autorin verlassen, treten zwei weitere Protagonist:innen ins Zentrum. Ein zweites Ehepaar tritt da auf, die Haushälterin Frau Andersen (Matti Krause) und ihr Mann, ein Kriminalkommissar (hinter einer Maske: ebenfalls Beckmann), der sich selbst als Romanfigur Maigret imaginiert. Ein hübsch komödiantisches Divertissimo ist diese kurze Szene, die freilich keinen echten Bezug zur Handlung herstellt. Dass in der Wohnung der Protagonistin einiges nicht stimmt, erfährt man da, dass Kurt womöglich ein dunkles Geheimnis hat, ein rätselhafter Koffer wird als MacGuffin erwähnt und gerät wieder in Vergessenheit.
Denn tatsächlich besitzt so diese konzentrierte wie konsequente Inszenierung einen Zielpunkt jenseits solch raunender Andeutungen: den Freitod der Protagonistin. Ganz so wie im Roman, der für ein Theater, das in erster Linie Literatur ist, zentral bleibt, ganz so wie im Leben der Autorin, in dem die Autofiktion immer Basis der Literatur bleibt.
NÄCHSTE VORSTELLUNGEN:
Die Abweichlerin, Deutsches Schauspielhaus Hamburg: 10., 23. Mai www.schauspielhaus.de

Theater heute Mai 2025
Rubrik: Aufführungen, Seite 24
von Falk Schreiber
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