Desperate Housewives und neueste Nachrichten vom Spätkapitalismus
Mangelnde Selbstreflexion wird Gemma, Lina, Minna und Sibylle Bergs Ich-Erzählerin niemand vorwerfen können. Die streetwise Girlsgang ist Anfang 20, diskursfit durchtrainiert, ausgesprochen formulierungsfreudig und denkt über sich und ihre aktuellen Liebesdesaster, Figurprobleme, Darstellungs- und Selbstdarstellungsvolten sowie alle weiteren vollgegenderten Weltprobleme bis mindestens in der dritten Ableitung mit abschließender Meinungspirouette nach.
Zur Entspannung verprügeln sie kleine Jungs und verstrahlen dabei vorzugsweise den lebensweisen Sarkasmus von mindestens 80-jährigen apokalypseverliebten Heiner-Müller-Fans nach drei Helene-Hegemann-Romanen. Den Lebensunterhalt finanziert ein schwunghafter Online-Handel mit gefälschten Viagra-Tabletten aus Rattengift. Das trendgeistige Quartett aus «Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen» hat 2013 in Sebastian Nüblings bewegungsrhythmischer Uraufführungsinszenierung das Berliner Gorki Theater von Shermin Langhoff und Jens Hillje gerockt und war das Stück des Jahres 2014. Vier hochindividuelle Schauspielerinnen in identischen Schlabberpullis hatten sich Sibylle Bergs mäandernden Erzählstrom mal chorisch, mal solistisch ...
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Theater heute November 2015
Rubrik: Aufführungen, Seite 24
von Franz Wille
In Hamburg scheint an diesem späten Freitagnachmittag die Sonne. Vor dem Hauptbahnhof steht ein langgestrecktes weißes Zelt, davor ein Schild: «Wir nehmen KEINE Kleiderspenden entgegen.» Fröhliche junge Frauen in gelben Helferwesten machen Quatsch mit fröhlichen kleinen Kindern von dunkler Hautfarbe. Junge Männer tigern rauchend auf und ab. Von der Bank auf dem...
Trendbewusste Theatermacher pflegen zurzeit ja eher ein angespanntes Verhältnis zu ihrem Publikum. Abende, an denen Kulturaktivisten (wie neulich das Zentrum für politische Schönheit in Dortmund) exklusiv das Auditorium herunterputzen, weil es sich lieber in Yogastudios herumtreibe statt in Damaskus gleichermaßen aktiv gegen den IS und den syrischen Diktator Assad...
«Die Nikon D 300 S», wendet sich Nathan (Robin Sondermann) ans Publikum, «liegt mit Akku und Speicherkarte bei 870 Gramm.» In Sondermanns Stimme liegt ein leichtes Zittern, liebevoll, begehrend, hastig: «Der Handgriff der Nikon D 300 S ist extrem ergonomisch ausgeformt.» Aus zwei Gründen ist es eine kluge Entscheidung, diese halbmasturbatorische Liebeserklärung an...
