Das Agora-Prinzip

In Milo Raus Prozess-Theater mit realen Angeklagten, Verteidigern und Zeugen gewinnen nicht unbedingt die moralisch Überlegenen. Gerichtsreportagen aus Moskau und Zürich

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Im blütenweißen Hemd tritt Alex Baur, geschätzter Endfünfziger, nach drei Prozess­tagen in den Zeugenstand, um stellvertretend das «letzte Wort der Angeklagten» zu sprechen. Die Tatverdächtige ist Baurs Arbeitgeberin, die Schweizer «Weltwoche» – bekanntermaßen ein Blatt, das Minarette, Kopftücher, Homosexuelle und andere traditionell eher SVP-ferne Phänomene zu seinen Lieblingsfeindbildern zählt.

Als die «Weltwoche» letztes Jahr auf ihrem Cover das Foto eines kleinen Roma-Jungen druckte, der – mit einer Pistole in der Hand – direkt auf den Betrachter zielte und das Ganze mit der Schlagzeile «Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz» garnierte, wurden verschiedentlich erfolglos Klagen angestrengt. Tatsächlich war das Bild auf einer Mülldeponie im Kosovo entstanden, wo ein Kleinkind stolz das einzige Spielzeug in die Kamera gehalten hatte, das es weit und breit finden konnte: eine Plastikpistole.

Den Prozess gegen die «Weltwoche», der realiter also nie stattfand, aber mental permanent im öffentlichen Erregungsraum steht, inszenierte nun der Schweizer Regisseur Milo Rau als fiktive Theater-Debatte – allerdings mit realen Betroffenen, tatsächlichen Diskursführern und juristischen ...

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Theater heute Juni 2013
Rubrik: Aufführungen, Seite 14
von Christine Wahl:

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