Das Agora-Prinzip
Im blütenweißen Hemd tritt Alex Baur, geschätzter Endfünfziger, nach drei Prozesstagen in den Zeugenstand, um stellvertretend das «letzte Wort der Angeklagten» zu sprechen. Die Tatverdächtige ist Baurs Arbeitgeberin, die Schweizer «Weltwoche» – bekanntermaßen ein Blatt, das Minarette, Kopftücher, Homosexuelle und andere traditionell eher SVP-ferne Phänomene zu seinen Lieblingsfeindbildern zählt.
Als die «Weltwoche» letztes Jahr auf ihrem Cover das Foto eines kleinen Roma-Jungen druckte, der – mit einer Pistole in der Hand – direkt auf den Betrachter zielte und das Ganze mit der Schlagzeile «Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz» garnierte, wurden verschiedentlich erfolglos Klagen angestrengt. Tatsächlich war das Bild auf einer Mülldeponie im Kosovo entstanden, wo ein Kleinkind stolz das einzige Spielzeug in die Kamera gehalten hatte, das es weit und breit finden konnte: eine Plastikpistole.
Den Prozess gegen die «Weltwoche», der realiter also nie stattfand, aber mental permanent im öffentlichen Erregungsraum steht, inszenierte nun der Schweizer Regisseur Milo Rau als fiktive Theater-Debatte – allerdings mit realen Betroffenen, tatsächlichen Diskursführern und juristischen ...
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Theater heute Juni 2013
Rubrik: Aufführungen, Seite 14
von Christine Wahl:
Vor dem Thalia Theater toben die Vorbereitungen des Evangelischen Kirchentags. Aufgekratzte Christen spazieren durch die Hamburger Innenstadt, hoffnungsfroh, sicher im Glauben. Im Thalia hingegen ist nichts sicher. Da wird Glaube verworfen, neu aufgerollt, in Fanatismus gewendet und vor allem umfassend diskutiert: Als letzte große Premiere der Spielzeit inszeniert...
Was hat König Ödipus mit der Finanzkrise zu tun? Weil die «Schuld» des Königs, der unwissentlich den Vater erschlagen und die Mutter geheiratet hat, so ähnlich klingt wie «Schulden»? Weil die zahlungsunfähigen amerikanischen Eigenheimbesitzer ihre Kreditverträge ebenso wenig überpeilt haben wie der Thebaner seine Familienverhältnisse? Oder weil sie ihre Häuser...
Was Berlin anlangt, so kann man es, wenn man am Hauptbahnhof aussteigt, gleich kennenlernen. Da gibt es nämlich zwei Sachen. An der Nordausfahrt steht – das hat mich immer sehr beeindruckt: ‹Bombardier begrüßt Berlin.›
Und an einer Wand etwas schamhaft in der Ecke auf einer Etage dieses Bahnhofs steht vor Glas und von hinten beleuchtet ein Spruch. So, dass man ihn...