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Die feministische Jina-Revolution wirkt im Untergrund weiter – und braucht mehr Zeit, als gedacht

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Als am 5. Oktober Narges Mohammadi Friedensnobelpreisträgerin wurde, leuchtete die Hoffnung. Der Ruf «Jin Jiyan Azadi – Frau Leben Freiheit» war wieder in den Medien, und Menschen auf der ganzen Welt haben sich an ihn erinnert. Die Jina-Revolution war aber die ganze Zeit über nie verschwunden, nur die Bühne der Revolution und ihre Dramaturgie hatten sich geändert.

Vor drei Jahren, als Covid den Theaterbetrieb komplett zum Erliegen brachte, hatte ich einen Vortrag mit dem Titel «Theater ohne Theater» auf einem virtuellen Festival gehalten.

Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass es für mich keinen Weg zurück nach Iran mehr geben könnte und mir das Recht auf Arbeit und Reisen in meinem Heimatland für immer genommen würde. Dieses Recht wollte ich nie verlieren, aber mit dem Ausbruch der Jina-Revolution dachte ich, dass es mein kleinster Beitrag zur Revolution wäre, diesen fundamentalen Wunsch zu opfern, indem ich mich öffentlich als Teil von ihr positionierte.

Der Vortrag beschäftigte sich auf Persisch mit sozialen und politischen Räumen, die kein Theaterraum sind, aber als theatrale Räume ohne Künstler als wirkmächtiges Medium der Übermittlung zu begreifen sind. Tatsächlich kam es in der Jina-Revolution seit Monaten zu einem Wechsel der Bühnen. Die Unterdrückung und maßlose Brutalität des iranischen Regimes gegen jede Art von Protest hatten Demonstrationen im öffentlichen Raum fast unmöglich gemacht. Die Anzahl der Ermorde -ten, der Gefangenen, die Arbeitsverbote, Reiseverbote und auch Kontakt -verbote waren so hoch wie nie. Manche mussten als vergleichsweise geringe Strafe theologische Seminare in der Stadt Ghom besuchen oder sich psychologischen Behandlungen unterziehen, besonders Schauspielerinnen, die sich ohne Kopftuch im öffentlichen Raum gezeigt hatten und nun öffentlich gedemütigt werden sollten.

Die militärische Brutalität des Regimes wütete vor allem in Kurdistan und Belutschistan. Die Bühnen der Revolution wurden kleiner, aber zahlreicher, als die Frauen nicht mehr auf Demonstrationen, sondern bei ihren täglichen Verrichtungen ohne Kopftuch auf die Straße gingen. Und obwohl aus der Kunst und Kulturszene, besonders für Schauspielerinnen, die sich mit der Revolution verbunden hatten, die Unterstützung versiegte und die Theater keine Arbeitsorte mehr für sie sind, ging ihre Bühne in den Untergrund: in Gefängnisse, in Justiz, in immer noch wachsende Netzwerke, in denen sich Frauen und Männer, Aktivistinnen, Feministinnen aus dem In- und Ausland organisieren.

Schon mit dem Ausbruch von Covid dachte man, dass das iranische Regime kurz vor seinem Scheitern gerade noch einmal gerettet wurde. Nun kommt der neue Nahost-Krieg zwischen der Terrororganisation Hamas und dem Regime Netanjahus. Iran als ewiger Unterstützer der Hamas verstand sich grandios auf’s «Burying»: Die Nachrichten über neue Hinrichtungen und das Schicksal der 16-jährigen Schülerin Armita Garavnand, die in der Teheraner Metro von der Sittenpolizei angegriffen wurde und seit Tagen im Koma liegt, sind praktisch ausgesetzt.

Niemand in der Welt der Nachrichten und Medien interessiert sich mehr für einzelne Schicksale, wenn Tausende durch Bomben und Raketen ermordet werden. Eine feministische Revolution, die sich aus einzelnen Schicksalen und aus Liebe zum Leben, zur Freiheit erschaffen hat, bleibt in der Zeit von Vernichtung und Krieg noch mehr im Untergrund. Das Traurigste daran ist, dass der Krieg die Spaltung zwischen den unterschiedlichen Teilen der Opposition im Iran wie auch in der Welt noch vertieft hat. Mir scheint mehr denn je, dass die Feministische Revolution nicht nur für Iran, sondern für alle Machtkämpfe die einzige Lösung bleibt. Sie braucht nun viel mehr Zeit, als die Revolutionäre dachten.

Maryam Palizban, geboren 1981 in Iran, ist promovierte Theaterwissenschaftlerin, Autorin, Schauspielerin. Sie lebt in Berlin und lehrte und spielte in Berlin und Teheran. Letztes Jahr beteiligte sie sich an den Protesten der Jina-Revolution durch die Veröffentlichung eines Bildes ohne Kopftuch und engagiert sich seitdem in verschiedenen oppositionellen feministischen Netzwerken.


Theater heute November 2023
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Maryam Palizban

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