Magische Momente

Was bleibt von 2022/23?

Opernwelt - Logo

Als im vergangenen Jahr Christoph Menkes «Theorie der Befreiung» erschien, musste man bei der Lektüre gleich zu Beginn schlucken. Denn die Diagnose des Frankfurter Philosophieprofessors war beileibe nicht dazu angetan, Hoffnungsfunken zu versprühen: «Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen.» Das war starker Tobak, der sich nur wenige Zeilen später noch düsterer, wenn man so will, anti-utopisch verqualmter auf Geist und Seele legte.

«Alle Befreiungsversuche, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch», so Menke, «haben sich in Paradoxien und Widersprüche verfangen; sie haben neue Gestalten und Strategien der Herrschaft hervorgebracht». Eine günstige Prognose sieht anders aus. Und klang auch anders.

Nun kann man lange darüber sinnieren, was der Begriff der «Befreiung» wesentlich impliziert, was er meint und bedeutet, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wenn man ihn auf die alltägliche Welterfahrung projiziert. Und natürlich ließe sich mit der gleichen Berechtigung die Frage formulieren, von was der Mensch und die Gemeinschaft, deren Teil der Einzelne ist, nun eigentlich befreit werden müssen. Zum Glück für uns offeriert Menkes dialektischer, wesentlich vom Denken Hegels, Heideggers und Adornos beeinflusster Parforceritt, der sich, um die «Theorie der Befreiung» zu exemplifizieren, zwei konträrer nicht denkbare «Narrative» aus der Kulturgeschichte der Menschheit herauspickt – die Exodus-Erzählung aus dem Buch Mose und die Geschichte von Walter White, der Hauptfigur in der US-amerikanischen Fernsehserie «Breaking Bad» – eine Option, die zumal der Kunst einen hohen Stellenwert zubilligt: den Moment ästhetischer Faszination. Befreiung, so Menke, beginne im Grunde mit Faszination, die selbst wiederum befreiend sei, gleichsam eine «transzendentale Erfahrung» (Giorgio Agamben). In diesem Zusammenhang verweist der Autor auch auf Maurice Blanchot, der einmal zu Protokoll gab, die Faszination sei die «Leidenschaft des Bildes». Wer auch immer fasziniert sei, glaubt Blanchot, von dem könne man sagen, «dass er keinen realen Gegenstand wahrnehme, keine reale Gestalt. Denn was er sieht, gehört nicht der Welt der Realität an, sondern dem unbestimmten Milieu der Faszination. Einem sozusagen absoluten Milieu», das «schlechthin anziehend, faszinierend» sei, mit einem Wort: «Licht, das zugleich Abgrund ist, ein Licht, in dem man zugrunde geht, furchterregend und verlockend».

So surrealistisch verblendet und metaphysisch überformt diese Sätze klingen mögen, so sehr sagen sie doch auch etwas sehr Wahres über unsere Zeit. Liest man mit Verstand und Augenmaß Tag für Tag die (seriösen) Zeitungen, so kommt man ja nicht umhin, an der Zukunft der Menschheit (oder sollte man besser sagen: der Zukunft des vom homo sapiens sapiens planstabmäßig ruinierten Planeten?) zu zweifeln. Kriege (beileibe nicht nur in der Ukraine), kapitalismusimmanente soziale wie ökonomische Katastrophen, Klimakrise – allein die derzeit den (nicht nur) intellektuellen Diskurs dominierenden Begriffe lassen an eine Formulierung von Hegel denken, der in seiner «Phänomenologie des Geistes» einmal von der «verkehrten Welt» spricht. In dieser entzauberten, entgötterten und von sich selbst entsetzten Welt fällt der Kunst eine wichtige Rolle zu: Sie sollte uns, ganz im Sinne Kolakowskis, den Glauben an eine Utopie zurückgeben. Doch nicht als didaktische Lehranstalt, sondern als ein Ort der Wiederverzauberung aus dem Geiste Samuel Becketts: «Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.» Denn das ist ja gerade das Schöne an der Kunst: Sie darf scheitern. Ihr ist es gestattet, künstliche Welten zu entwerfen, sich in Bereiche des Weltinnenraums vorzutasten, die sonst unbewohnt bleiben würden, ja, sie darf sogar eigene Welten kreieren. Und seien wir ehrlich: Welche Kunstform wäre, um diesen Möglichkeitssinn zu aktivieren, geeigneter als das «unmögliche» Kunstwerk Oper?

Bereits ein Blick auf die vergangene Spielzeit zeigt, dass der Mut zum Ungewohnten gestiegen ist. Zugegeben, der Kanon der aufgeführten Werke ließe sich noch um ein Weites dehnen, um sich aus der Umklammerung rigorosen Rechnungshofdenkens zu befreien. Viele Häuser schaffen das (noch) nicht, vielleicht auch, weil ihnen die dazu nötige Courage und dort und da auch die logistischen respektive finanziellen Kapazitäten fehlen. Dass es dennoch möglich ist, zeigt ein Beispiel aus dem Süden. Am Theater Ulm wurde im vergangenen Dezember ein Werk uraufgeführt, dass beinahe 100 Jahre vereinsamt in den Schubladen lag: Charles Tournemires «La légende de Tristan». Der Ulmer Intendant Kay Metzger entriss dieses außergewöhnliche, die mythische Sage von Tristan und Isolde behutsam aufgreifende Bühnenwerk nach einem Text von Albert Pauphilet (und damit auch gleich seinen Schöpfer, den «Meister der Arabeske», wie der von Tournemire wiederum verehrte Olivier Messiaen ihn einmal nannte) dem Vergessen und brachte es in eigener Inszenierung auf die Bühne. Der Lohn für diese Großtat erfolgte auf dem Fuße: «La légende de Tristan» wurde von den Kritikerinnen und Kritikern der «Opernwelt»-Umfrage zur «Uraufführung des Jahres» gekürt. Doch nicht zur einzigen. Denn exakt dieselbe Anzahl von Stimmen entfiel auf ein Musiktheater, das nicht eine Minute lang in irgendeiner Schublade zu verstauben drohte – aus dem einfachen Grund, dass es ein Auftragswerk war. Vito Žurajs «Blühen» auf ein sprachmächtiges Libretto von Händl Klaus kam im Bockenheimer Depot heraus, der Zweitspielstätte der Oper Frankfurt, mit dem Ensemble Modern unter der Leitung von Michael Wendeburg und in der klugen, dezent-einfühlsamen Regie von Brigitte Fassbaender. So ästhetisch und in ihrer klanglichen Idiomatik unterschiedlich beide Opern verständlicher Weise sind, eint sie doch etwas: jene poetische Eindringlichkeit, mit der die Möglichkeit einer Liebe und das Dasein zwischen Leben und dem allgegenwärtigen Tod, das ununterbrochene Geworfen- und Gewesen-Sein, behutsam thematisiert und mit starken künstlerischen Mitteln evoziert werden.

Von solchen Entdeckungen gab es in ganz Europa, in Nord und Süd, West und Ost, eine Menge. Nicht jedes Experiment gelang, aber allein die Tatsache, dass es diese Experimente überhaupt gab, ist positiv zu bewerten, vergessen wir Beckett nicht. Dass viele Intendanten (und bei weitem nicht so viele Intendantinnen, das Verhältnis liegt weiterhin sehr im Argen) dennoch auf die bekannten «Zugpferde» von Händel über Mozart und Rossini bis Verdi, Wagner und Puccini setzten, stimmt hingegen etwas traurig. Wohin das Auge schaut, blitzt ihm der «Ring des Nibelungen» entgegen, «blitzt» ästhetisch gesehen aber eben nur für kurze Zeit oder gar nicht. Die Häufung an Deutungsversuchen in Sachen Tetralogie ist auffällig; ob sie ein gutes Zeichen ist, das zumindest darf man bezweifeln, zumal nur wenige der ambitionierten «Großtaten» auch große Kunst mit sich brachten. Die «Ring»-Narrative – am deutlichsten hat das Bayreuth gezeigt – scheinen verbraucht zu sein; es ist an der Zeit, sich anderen Erzählformen zu widmen, um jene Paradoxien der Mehrlust mit (neuem) Sinn zu füllen.

Wie es gehen kann, zeigte einmal mehr die Oper Frankfurt, die nun bereits zum siebten Mal den Titel «Opernhaus des Jahres» einheimste (und dazu noch den «Chor des Jahres» unter seinem Dach beherbergt). Mit dem sicheren (auch durch gute Erfahrungen gesättigten) Gespür für einen dramaturgisch plausiblen, spannenden und abwechslungsreichen Spielplan sowie die Wahl der richtigen Regisseurinnen und Regisseure für die unterschiedlichsten Werke hat der Musentempel am Main erneut unter Beweis gestellt, dass Oper gerade auch dort attraktiv sein kann (und letztlich ist), wo man es nicht unbedingt vermuten würde. Ein Werk wie Frank Martins «Le vin herbé» scheint auf den ersten Blick wenig geeignet, um Massen anzuziehen: Wird es aber so gekonnt auf die Bühne gebracht wie in Frankfurt von Tilmann Köhler, und erzeugt auch die Musik gleichsam magnetische Wirkungen (wie geschehen unter Leitung von Markus Poschner), dann lässt sich auch ein Publikum von der Aura von Werk und Aufführung überzeugen, das vielleicht nicht genuin opernaffin ist. Ähnliches gilt für Rudi Stephans erotisches Mysterium «Die ersten Menschen». Kein einfaches Stück, beileibe nicht, aber eben eines, das allein aufgrund seiner Fülle an kompositorischen Ideen imstande ist, viele Menschen in den Bann zu ziehen – und deshalb mit Fug und Recht zur «Wiederentdeckung des Jahres» gewählt wurde.

Dass Frankfurt aufgrund seiner Lage einen Standortvorteil besitzt, mag durchaus sein. Doch sollte man nicht außer Acht lassen, dass es allein in der Rhein-Main-Region mit den Staatstheatern von Wiesbaden, Darmstadt und Mainz gleich drei weitere Opernhäuser in unmittelbarer Nähe gibt, dass also die Anziehungskraft des von Bernd Loebe mit sicherer Hand geführten Hauses (auch) andere Gründe haben muss – inhaltliche, will sagen: künstlerisch-ästhetische Gründe. Alle Kunst ist Trompe-l’œil, ist Täuschung, Camouflage, Übertreibung und Überzeichnung – oder wie es der Komponist Nikolai Rimski-Korsakow einmal etwas überspitzt sagte, raffinierte Lüge. Die Frage ist eben nur: Wie erzähle ich das, was über die Wahrheit hinaus geht? Und wie schaffe ich es, einen gesellschaftlichen Diskurs aufrechtzuerhalten, dem die Oper in vielen Fällen leider ausweicht?

Die Wahl von Dmitri Tcherniakov zum «Regisseur des Jahres» beweist, dass die Antwort zwar nicht ganz so einfach, aber doch mit Anstand zu geben möglich ist. Tcherniakov ist ein Tüftler, ein Forscher, ein Zweifler; einer, der sich manches Mal selbst im Weg steht und – Anfang Juli zu besichtigen in seiner nachgerade grotesken und nicht zu Ende gedachten Lesart von Mozarts Dramma giocoso «Così fan tutte» beim Festival d’Aix-en-Provence – hier und da zu extremen, ins Absurde steuernden Deutungen hinreißen lässt. Aber nie flieht er vor der Auseinandersetzung mit dem Werk und den jeweils innewohnenden Konfliktlinien. Über seinen Berliner «Ring» gehen die Meinungen zu recht weit auseinander (was andererseits ein untrügliches Zeichen ihrer Diskutabilität ist), was aber seine von vielen, nicht nur wohlklingenden Nebengeräuschen begleitete Inszenierung von Prokofjews höchst ambivalenter Adaption von Tolstois «Krieg und Frieden» an der Bayerischen Staatsoper München angeht, waren sich die Expertinnen und Experten mit und ohne Kugelschreiber weitgehend einig: Das war ein großer, spektakulärer, insbesondere politisch relevanter Abend, der zudem die These, Oper sei im Gegensatz zum Schauspiel letztlich doch vorwiegend kulinarisch, entschieden zu widerlegen wusste. Dass mit Dmitri Tcherniakov nach Kirill Serebrennikov im vergangenen Jahr erneut ein russischer Regisseur gekürt wurde, ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Dialektik aus Leben und Kunst weiterhin wirksam ist und die Opernbühne als Ort eines übergreifenden Dialogs auch weiterhin von erheblicher Ausstrahlung geprägt sein kann.

Beim Stichwort «Ausstrahlung» fällt es wiederum leicht, an einen Sängerdarsteller zu denken, der für seine Art und Weise, Rollen zu verinnerlichen und ihnen einen besonderen Anstrich, eine besondere individuelle Note zu geben, schon 2008 und 2014 mit dem Titel «Sänger des Jahres» ausgezeichnet wurde. Wer seinen Wotan an der Berliner Staatsoper gesehen und gehört hat, konnte nicht umhin, begeistert zu sein: von der (mit Leichtigkeit gepaarten) vokalen Souveränität und von der schauspielerischen Intensität, mit der Michael Volle die Rolle des Göttervaters füllte, der hier eben alles andere war als ein Göttervater, nämlich ein an sich selbst und seiner Macht zweifelnder, schon etwas gealterter, müder Macho, der schon im «Rheingold» spürt, dass um ihn herum etwas entsteht (oder sollte man sagen: vergeht?), das er nicht mehr in den Griff kriegt. Volle stattete diesen melancholisch gestimmten, matten Mann mit einer subtilen Würde aus, die ihresgleichen suchte; was aber fast noch mehr faszinierte, war die (selten zu sehende) humoristische Seite dieser Rolle, die sich insbesondere im Zusammenspiel mit Johannes Martin Kränzle als gleichfalls schon leicht seniler Alberich grandios entfaltete, frei nach dem Bierbaum’schen Motto: «Humor, das ist, wenn man trotzdem lacht».

Konstantin Krimmel hat diesen weiten, glanzvollen (von Brüchen nicht freien) Weg des begnadeten Sängerdarstellers noch vor sich, er ist nicht einmal halb so alt wie Volle. Aber nicht nur deswegen ist die Auszeichnung als «Nachwuchssänger des Jahres» angemessen. Krimmel, der schon früh auf sich aufmerksam machte (und in der «Opernwelt» vor Jahr und Tag schon als «größte Nachwuchshoffnung im Bariton-Fach» gewürdigt wurde), besitzt etwas für eine Karriere geradezu Unabdingbares: eine parfümlose, ungeschminkte, technisch saubere, hochgradig expressive und kraftvolle Stimme. Die ist sein Pfund, damit kann der Mann aus Ulm, der seit der Spielzeit 2021/22 Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper ist und dort als Guglielmo in Mozarts «Così» schon mit Lorbeer behängt wurde, wuchern. Aber eben das ist das Schöne, Verheißungsvolle an diesem Sänger. Er wuchert nicht, er singt einfach. Sein mächtiger, nie aber aufdringlicher oder gar bramarbasierender Bariton scheint einem Bergsee entsprungen, so klar, und rein klingt er. Und so naturbelassen. Schon in seinem Liszt-Album mit dem wunderschönen Titel «Der du von dem Himmel bist» war das zu hören, und auch in seiner soeben als CD herausgekommenen Lesart von Schuberts Liedzyklus «Die schöne Müllerin» (mit dem herausragenden Pianisten Daniel Heide als Partner) wird evident, welch enormes Potenzial der 30-Jährige besitzt. Niemand dürfte sich wundern, wenn Wotan alias Michael Volle unter seinen zahlreichen «Kindern» gerade ihn zu seinem würdigen Nachfolger bestimmen würde.

Einen «Nachfolger» sucht gewissermaßen auch Kirill Petrenko, der Seriensieger in der Kategorie «Dirigent des Jahres». Für seine Interpretation der Strauss-Oper «Die Frau ohne Schatten» bei den Festspielen in Baden-Baden kürten ihn die Kritikerinnen und Kritiker bereits zum siebten Mal; verwundern darf dies schon allein deswegen nicht, weil der Chefdirigent der auch in Baden-Baden wieder einmal bestechend musizierenden Berliner Philharmoniker Strauss’ metaphernreiche Märchenoper vor vielen Jahren schon in München mit einer unvergleichlichen Liebe zum Detail und einem einzigartigen Klangsinn dirigiert hatte. Damals stand Petrenko vor jenem Orchester, das heuer – begleitet von einem im Verlag Bärenreiter erschienenem Jubiläumsband – sein 500-jähriges Bestehen feiert – dem Bayerischen Staatsorchester. Inzwischen leitet Vladimir Jurowski diesen Klangkörper, doch viel geändert hat sich nicht. Erneut und zum elften Mal geht der Titel «Orchester des Jahres» in die Stadt des deutschen Fußballmeisters – etwaige Parallelen zwischen Graben und grünem Rasen sind natürlich reinster Zufall.

Kein Zufall ist es, dass die «Ungewöhnlichste Opernerfahrung» dieses Mal nicht irgendeiner kulturpolitischen Fehlentwicklung gilt, sondern einem rein ästhetischen Ereignis. Die Aufführung von Olivier Messiaens megalomaner Oper «Saint François d’Assise» an der Staatsoper Stuttgart sprengte in vieler Hinsicht Grenzen und mutierte damit zu einer nachgerade «kultischen» Erfahrung. Mehr als acht Stunden dauerte die Inszenierung von Anna-Sophia Mahler, und sie geleitete die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht nur die ganze Stadt, sondern zudem durch unterschiedlichste mediale und soziale Realitäten. Eine Erfahrung der besonderen Art, die zugleich einen Raum öffnet für das, was Oper künftig (auch) sein könnte, ohne gleich ins partizipative Fach abzugleiten: eine Art Happening, das den Kern des aufgeführten Werkes zwar unangetastet lässt, dieses aber in einen veränderten soziokulturellen Kontext stellt und sich somit von gesellschaftlichen Zwängen und überkommenen Benimmregeln emanzipiert.

In gewissem Sinn ist es das, wonach auch der Philosoph Christoph Menke in seinem widerborstigen Buch «Theorie der Befreiung» sehnt: nach einer neuen Sichtweise auf die Dialektik von Herrschaft und Freiheit und nach einem veränderten, von einer natürlichen Faszination ausgehenden Sehen und Hören von Kunstwerken, bei dem nicht nur das Sehen und Hören neue Qualität gewinnt, sondern das Bild, in diesem Fall das Kunstwerk Oper, das entfaltet, was Maurice Merleau-Ponty eine «magische Kraft» nannte. Blickt man zurück in die Spielzeit 2022/23, so gab es doch zahllose Momente, in denen diese Kraft sich entfalten durfte. Was nun nur noch fehlt, sind Ideen, wie man sie aus dem heiligen Tempel der Kunst verstärkt in die Welt da draußen tragen könnte, damit noch mehr Menschen von ihr berührt werden. Oder wie es der Philosoph Martin Seel in seiner «Ästhetik des Erscheinens» so schön sagte: dass sie im Wahrnehmen eines «Gegenstandes» so bestimmt werden, dass sie sich in ihm «bestimmen lassen». Die Oper kann das. Sie sollte ihr Potenzial nur noch besser nutzen. Gelegenheit bietet die kommende Spielzeit.

1. Uraufführung
Tournemire: La légende de Tristan, Theater Ulm Žuraj: Blühen, Oper Frankfurt
2. Wiederentdeckung
Stephan: Die ersten Menschen, Oper Frankfurt
3. Aufführung
Prokofjew: Krieg und Frieden, Bayerische Staatsoper München
4. Regie Dmitri Tcherniakov
5. Bühne Michael Levine
6. Kostüme Giuseppe Palella
7. Dirigent Kirill Petrenko
8. Sänger Michael Volle
9. Nachwuchskünstler Konstantin Krimmel
10. Opernhaus Oper Frankfurt
11. Orchester Bayerisches Staatsorchester
12. Chor Chor der Oper Frankfurt
13. Ungewöhnlichste Opernerfahrung
Messiaen: Saint François d’Assise, Staatsoper Stuttgart
14. Bücher Jörn Peter Hiekel: Helmut Lachenmann und seine Zeit (Laaber) Barrie Kosky: Und Vorhang auf, hallo! (Insel)
15. CD/DVD
Dessau: Lanzelot (Audite) Händel: Theodora (Erato)

BARRIE KOSKY/RAINER SIMON: «UND VORHANG AUF, HALLO!»
Insel Verlag, Berlin 2023. 250 Seiten; 26,00 Euro

JÖRN PETER HIEKEL: HELMUT LACHENMANN UND SEINE ZEIT
Laaber, Lilienthal 2023. 520 Seiten; 46,80 Euro

DESSAU: LANZELOT
Emily Hindrichs (Elsa), Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot), Oleksandr Pushniak (Dragon), Juri Batukov (Charlesmagne), Wolfgang Schwaninger (Mayor), Uwe Stickert (Heinrich), Daniela Gerstenmeyer (Cat), Andreas Koch (Medicine Man); Opernchor des Deutschen Nationaltheaters Weimar, Chor des Theaters Erfurt, Kinderchor schola cantorum weimar, Staatskapelle Weimar, Dominik Beykirch audite 23448 (2 CDs); AD: 2019

HANDEL: THEODORA
Lisette Oropesa (Theodora), Joyce DiDonato (Irene), Paul-Antoine Bénos-Djian (Didymus), Michael Spyres (Septimius), John Chest (Valens); il Pomo d’Oro, Maxim Emelyanychev Erato 5054187177910 (3 CDs); AD: 2021


Opernwelt Jahrbuch 2023
Rubrik: Bilanz des Jahres, Seite 56
von Jürgen Otten

Weitere Beiträge
Wege zur Kunst

Ein ahnungsloser Reisender wäre vermutlich nachhaltig irritiert, käme er an einem milden Herbstnachmittag am Frankfurter Hauptbahnhof an und würde seinen Weg zu Fuß durch das Bahnhofsviertel in Richtung Willy-Brandt-Platz antreten. Der Pfad zur Kunst, er ist steinig und für zarte Gemüter nicht eben angenehm. Seit einigen Jahren wächst die Armut und damit auch die Kriminalität gerade in...

Der Anti-Utopist

Erinnern wir uns: Es ist kurz nach zehn am Abend, und noch einmal tönt da an diesem trüben Februartag 2018 des Hirten todestraurig klagende Weise, da raunt der getreue Kurwenal seinem der Welt eigentlich schon längst abhanden gekommenen Tristan zu: «Noch ist kein Schiff zu seh’n!» Wird die ihren Geliebten erlösende Isolde je zurückkehren? Wenn ja, dann sicherlich nicht per Segelboot oder...

Wichtige Aufführungen der Saison 2022/23

Wer Peter Konwitschnys Lesart von Wagners «Walküre» an der Oper Dortmund in der letzten Saison gesehen hatte, musste sich nun, bei der Fortsetzung des «Ring»-Zyklus mit «Siegfried», nicht mehr wundern. Die Welt ist aus den Fugen, das prekäre Verhältnis des Menschen zur Natur allzu offensichtlich in der letzten umfassenden Geschichte vom Abendland. Konwitschny nutzte diese Erkenntnis für...