Er will nur spielen

Seit 2018 ist Cornelius Meister Musikchef der Stuttgarter Staatsoper und des Staatsorchesters. Leise und hartnäckig saniert der Dirigent die Fundamente des Zusammenspiels

Opernwelt

Hamburgs Pech ist Stuttgarts Glück. Als ein Nachfolger für Simone Young gesucht wurde, die ihren 2015 auslaufenden Vertrag als Generalmusikdirektorin der Hamburgischen Staatsoper nicht verlängern wollte, hatte man bald Cornelius Meister im Blick, damals Chefdirigent des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien. Melomane Hanseaten, die einflussreicher waren, als ihr künstlerischer Sachverstand es ihnen erlaubte, drangen auf einen glänzenderen Namen. Der unterschriftsreife Vertrag mit Meister kam nicht zustande, stattdessen wurde Kent Nagano angeworben.

So hatte Viktor Schoner nach seiner Nominierung zum Intendanten der Staatsoper Stuttgart gute Karten, als er sich Anfang 2016 auf die Suche nach einem Musikchef begab.

Meister wollte wieder fest an ein Musiktheater und sagte beherzt zu, obwohl er an den Häusern in London, San Francisco, Wien, Berlin, Paris, Wien, München, Hamburg und Dresden gefragt war – und ist. In Mailand hatte er Anfang 2018 die an der Scala nie aufgeführte «Fledermaus» einstudiert; an der Met in New York debütierte er 2019 mit «Don Giovanni», «Le nozze di Figaro» folgte dieses Jahr, eine «Zauberflöte» ist verabredet.

Die Karriere von Cornelius Meister, der im Februar seinen 40. gefeiert hat, ist eine stille. Und hat es in sich. Hochbegabt, absolutes Gehör, wird er sehr früh von seinem Vater, Klavierprofessor in Hannover, und seiner Mutter, ebenfalls Klavierpädagogin, unterrichtet. Noch heute wird er nach einer Viertelstunde unruhig, wenn nicht ein Flügel in der Nähe steht. So erzählt es Schoner. Was er an seinem Generalmusikdirektor schätzt? «Natürlich seine Musikalität und, das klingt jetzt komisch: sein Gehör. Aber wenn Sie erleben, wie er noch in Endproben an der Intonation im Orchester feilt, ist das ein Fest. Dann sein breites Repertoire, seine Liebe zum Metier und die Freude am Theater, also Oper als etwas, das Spaß macht und nicht als anstrengend empfunden wird durch das viele Probieren. Und er ist integer, weil er ein Mann der offenen Worte ist. Schließlich ist er bodenständig geblieben.»

Der Gemeinte klingt dann etwa so: «Wir sind uns alle hier bewusst, dass das Hoftheater Stuttgart schon lange existierte, bevor es uns gab, und darum geht es: Wir alle sind kleine Rädchen, die das Privileg haben, etwas zu dieser Geschichte beizutragen.» Da Meister einem so unglaublich jugendlich, frisch und mit offenem Gesicht gegenübersitzt – man schätzt ihn glatt zehn Jahre jünger –, wirkt dieser Satz beinahe musterschülerhaft zurechtgelegt. Auch weiß man zunächst nicht, ob die Demut eine anerzogene ist oder eine tatsächlich empfundene. Man muss ihn länger kennen, um zu wissen: Meister posiert nicht, er meint es ernst. Auch mit der Teamarbeit.

Am Abend vor dem Treffen in seinem Büro hatte er Premiere an seinem Haus. Allerdings stand er beim neuen «Figaro» nicht selbst im Graben, sondern saß im ersten Rang, von wo aus er als GMD schaute und hörte, was läuft, wenn er nicht selbst den Taktstock hebt. Für das Orchester und den Kollegen am Pult findet er lobende Worte, schließlich sei er in seiner neuen Verantwortung an Roland Kluttigs Engagement beteiligt gewesen, sagt er selbstbewusst. Verhalten bleibt er dagegen bei der Frage, ob Mozart, trotz des D-Dur-Finale-Jubels, glaubt, dass der Graf nicht mehr fremdgeht und die Gräfin ihm aus tiefstem Herzen verziehen hat: «Ich muss gestehen, ich bin ein grundoptimistischer Mensch. Schon als Kind habe ich mich gefreut, einen Abend zu erleben – egal, ob im Kino, im Schauspiel oder in der Oper – und am Ende den Eindruck mitzunehmen: Die Sache ging gut aus. Ich verstehe, dass die Welt nicht so ist, und das mag ein kindlich-naiver Zugang sein …» Während man noch überrascht ist von seiner entwaffnenden Zuversicht, setzt Meister recht leise hinzu: «In jedem überzeugenden Drama bleiben am Ende Fragen offen.»

Meister, der Diplomat. Einerseits. Bei aller Freundlichkeit und ruhiger Ansprache: In der Probe lässt er nichts durchgehen, heißt es. Der Ruf, er sei ein Genauigkeitsfanatiker bis hin zum Pedantischen, begleitet ihn seit Beginn seiner Karriere. Er lässt ungern etwas Ungerades stehen. Für ihn gibt es keine Nebensächlichkeiten. Am Premierenabend hatte er gesehen, dass ein Musiker im Graben eine Armbanduhr trug. Dabei gäbe es doch eine Vereinbarung: keine Armbanduhren zum Frack. Das werde er dem Musiker sagen müssen. Vielleicht sind es solche Kleinigkeiten, die dazu führen, dass im Stuttgarter Staatsorchester einige misstrauisch sind. Man fürchtet, kontrolliert zu werden. Dabei will Meister wirklich nur spielen, bestreitet als Pianist Kammerkonzerte mit den Musikern; zum Auftakt seiner Amtszeit Schuberts «Forellenquintett». Und mit Matthias Klink, Ensemblemitglied in Stuttgart, hat er neulich sehr innig die «Schöne Müllerin» aufgeführt. Wenn er mit den Stimmführern der Streicher die vier Schumann-Symphonien durchspielt, um die Bogenstriche festzulegen, ist das eine blanke Angelegenheit, andererseits probentechnisch sehr effizient. Nach den ersten Erfolgen stellen sich die Orchestermitglieder auf Meister ein: «Detailliert und gewissenhaft» sei er. Manchmal hakt es an seiner Ansprache, sagt, wohlwollend, eine Musikerin: «Ihm scheint nicht klar zu sein, dass nicht die ganze Welt um ihn herum genau so intelligent und von so schneller Auffassungsgabe ist, wie er selbst.»

Wie Meister arbeitet, muss man selbst erleben. München, Dezember 2019. Die erste Orchesterprobe zur nächsten Premiere steht an, Hans Abrahamsens Oper «The Snow Queen», die fünf Wochen zuvor in Kopenhagen uraufgeführt worden war. Auch eines der besten Opernorchester der Welt schaut an einem Samstagvormittag ein wenig müde aus der Wäsche, wenn am Abend vorher im Münchner Nationaltheater ein teuflisch schweres Stück zu spielen war, Korngolds «Tote Stadt» unter Kirill Petrenko. Entsprechend leger kommen die Musiker in den Bruno-Walter-Saal. Gut gelaunt, einen blauen Pullover über die Schultern gelegt, steht Cornelius Meister am Dirigentenpult, wartet das Einstimmen ab – das erste Mal hat er das Bayerische Staatsorchester 2004 dirigiert, im Jahr seiner Bestellung zum Heidelberger Generalmusikdirektor. Jetzt macht er, kurz gesagt: einfach wieder alles richtig, strukturiert die Probe so, dass das Orchester zwei Stunden motiviert bleibt. Um bei den rhythmischen Vertracktheiten von Abrahamsens Stück keinen Verdruss bei den Musikern aufkommen zu lassen, fängt er nicht von vorn an, sondern da, wo die Musik griffig klingt. Er verbeißt sich nicht, gibt hier einen Hinweis, dirigiert da trocken zwei Takte vor, damit alle gleich wissen, wie es gemeint ist. Wo andere Dirigenten eine Passage wiederholen würden, gibt er nur einen Kommentar und vertraut darauf, dass die Musiker sich beim nächsten Mal daran erinnern. Meister ist wie immer bestens vorbereitet, er ist bekannt für sein penibles Studium der Partituren. Oft dirigiert er auswendig, wie bei der Stuttgarter Repertoirevorstellung von «Ariadne auf Naxos» vor der letzten Sommerpause. Sie wurde zur Sternstunde, weil Meister mit dem blendend aufgelegten Orchester den Sängern einen Samtteppich ausrollte, auf dem nicht für eine Sekunde Rutschgefahr herrschte. «Wenn ich die Noten brauche, dann nehme ich sie, aber eine Placebo-Partitur hinzulegen, halte ich für überflüssig», sagt er. Ein fotografisches Gedächtnis habe er nicht. Überhaupt, mit dem Begriff kann er wenig anfangen, er spricht lieber von Ohrengedächtnis. So was kommt von sowas: Meister spielt in der Vorbereitung alle Werke, auch Konzertprogramme am Klavier durch, bis er sie draufhat. Es geht die Fama, er habe mehr als 50 Opern abrufbereit …

In Absprache mit Intendant Schoner wählte er sich für seinen Antritt in Stuttgart «Lohengrin» – neben den «Meistersingern» fehlte der auf der Wagner-Liste. Die Premiere im September 2018 wurde zum Riesenerfolg für den Dirigenten. Wie er die sehrende Kantilene der Violinen nach Elsas «Es gibt ein Glück ohne Reu» sehnsüchtig blühen ließ, das bezeugte einen hier lange vermissten süffigen Klangsinn. Am neuen Wirkungsort Stuttgart fühlen sich Meister, seine Ehefrau und ihre drei Kinder ziemlich wohl. Als passionierter Radfahrer nimmt er selbst winters das Vehikel auf dem Weg zur Oper. Nicht ungefährlich: Im Dezember 2018 stürzte er, brach sich Rippen. Nach dem Placet des Arztes dirigierte er dennoch zwei Tage später eine «Tosca»-Vorstellung.

Wenn es um Musik geht, setzt er noch einen drauf, man meint, er würde am liebsten alle Positionen selbst besetzen. Neujahrskonzert in Stuttgart? Er dirigiert Carlos Kleibers Wiener Programm von 1989 nach, und bei Strauß’ «Pizzicato-Polka» kommt er mit Cello (hat er zehn Jahre studiert) auf die Bühne, setzt sich ins Orchester, der Konzertmeister dirigiert. In Heidelberg war er wiederholt als dirigierender Solist am Flügel zu erleben: in den Konzerten von Grieg, Liszt (Es-Dur), Mendelssohn (g-Moll), in Gershwins «Rhapsody in blue». Berührungsängste kennt er nicht. Beim ORF begleitet er den exzentrischen Chilly Gonzales mit seinem Orchester. Eine schräge Nummer.

Gerne studiert Cornelius Meister Aufnahmen, so wie der von ihm verehrte Carlos Kleiber es getan hat, den er gestisch nicht im Geringsten imitiert. Er weist darauf hin, dass all unsere Urteile über Interpretationen geprägt sind von einem Wissen, dass früheren Musikergenerationen nicht zur Verfügung stand: «Ein Engländer zu Mozarts Zeit konnte nicht wissen, wie in Wien oder Paris musiziert wurde, es sei denn, er ist gereist. Wir sind in der Lage, durch Aufnahmen nachzuvollziehen, wie in vergangenen Jahrzehnten musiziert wurde. Das wiederum hat Auswirkungen auf unsere Art, Werke zu interpretieren und wie das Publikum Musik hört.»

Cornelius Meister untersucht akribisch die Sedimente der Tradition. Für eine Wiederaufnahme der «Tristan»-Produktion des Gespanns Wieler/Morabito in diesem Frühjahr hat er wieder ganz genau ins Material geschaut. «Es gibt am Anfang des dritten Akts Bogenstriche, von denen es heißt, sie gehen auf Carlos Kleiber zurück», erzählt er. Da Kleiber in Stuttgart im September 1969 seinen ersten «Tristan» dirigierte, habe er sich das hiesige Material vorgenommen – und siehe da, trotz Radierungen und Überschreibungen, die Wiener Bogenstriche sind Stuttgarter. Das freut Cornelius Meister. Auch der Hinweis, dass es einen vollständigen Live-Mitschnitt von Kleibers Stuttgarter «Tristan» gibt. Den müsse er sich gleich besorgen, sagt er – und eilt davon.


Opernwelt April 2020
Rubrik: Porträt, Seite 32
von Götz Thieme

Weitere Beiträge
Zirkusreif

Eine Wiener Fotografie zeigt den achtjährigen André Heller im Kostüm des Rosenkavaliers, und als Internatszögling ist er dann immer wieder zu Hofmannsthals Fuchsschlössl in Rodaun gelaufen und hat den «Heiligen Hugo» um Rettung aus der jesuitischen Folterkammer gebeten. Mag sein, dass der Geist des Dichters ihn erhörte – doch mit Einfällen, wie man seine bekannteste Komödie für Musik...

Durch Böhmens Hain und Flur

Smetana, ein «großer Komponist»? Als 21. Name hat der Außenseiter aus Litomyšl seinen Platz gefunden in der vor 39 Jahren begründeten Reihe des Laaber-Verlags. Für den im Dezember 2018 verstorbenen Hans-Klaus Jungheinrich war der Schöpfer der «Moldau» sehr wohl ein «großer Komponist». In zehn Kapiteln deutet er an, wie viel in der tschechischen Musik des 19. Jahrhunderts noch zu...

Fremd zieh' ich wieder aus

Eine «komponierte Interpretation» hat Hans Zender seine 1993 entstandene Version von Schuberts Liedzyklus «Winterreise» genannt. Es ist sein bekanntestes, meistaufgeführtes Werk, mit dem er auch Hörer außerhalb des Avantgarde-Zirkels erreicht. Es war nicht die erste Bearbeitung dieser «schauerlichen Lieder» (wie Schubert sie selbst bezeichnete), und es sollte auch nicht die letzte...